Aus dem Besitz von Christl und Otto Bäuerle jun. wurden dem Heimat­ver­ein zwei ziemlich alte Poesie­al­ben, — eines davon mit Einträ­gen, die über 100 Jahre alt sind, übereignet.

Das ältere der beiden Alben gehör­te Liset­te Schee­rer (4. Juli 1885 bis 30. Mai 1959), in erster Ehe verhei­ra­te­te Schie­ber, in 2. Ehe verhei­ra­te­te Betz. Liset­te Schee­rer ist die Tochter des Müllers Georg Schee­rer und die Schwes­ter des Müllers Kaspar Schee­rer von der sogenann­ten »Unteren Mühle«, oder auch »Schee­rer­müh­le«. Liset­te Scheerer/Schieber/Betz hatte 3 Kinder, darun­ter Elisa­beth, die mit Fabri­kant Otto Bäuerle sen. verhei­ra­tet war. Über die Familie Otto Bäuerle sen. kamen die Poesie­al­ben in den Besitz der Familie Otto Bäuerle jun. Otto Bäuerle jr. ist der Enkel von Liset­te Schie­ber geb. Schee­rer. Liset­tes Bruder Kaspar Schee­rer hatte ebenfalls drei Kinder, nämlich Hans Schee­rer, Müller, sowie Elsbeth Schee­rer und Emil Schee­rer, der heute wieder in Oberko­chen lebt. Das heißt: Liset­te war die Tante der drei in Oberko­chen wohlbe­kann­ten Kinder des Kaspar Schee­rer, von denen zwei bereits verstor­ben sind.
Die Schee­rers sind auf dem evange­li­schen Fried­hof in der »Schee­r­errei­he« beigesetzt.

Beim Lesen der Einträ­ge steht die Zeit vor 100 Jahren im Gegen­satz zu unserer Zeit plastisch vor Augen:
Sowohl die Schrif­ten der Erwach­se­nen, als auch die der Kinder sind ein ästhe­ti­scher Genuss. Die Schrif­ten sind trotz einer gewis­sen Einheit­lich­keit dennoch indivi­du­ell recht verschie­den. Leider wird unseren Kindern heute in der Schule nicht mehr »zugemu­tet«, die deutsche Schrift ihrer Vorfah­ren zu erler­nen. Und leider lernen sie in der Regel nicht einmal mehr die Schrift, die sie erler­nen, sauber und leser­lich zu schrei­ben. Das sieht man heute natür­lich positiv und nennt das »zwang­lo­se Verwirk­li­chung des Individuellen«.

Dieser überzo­ge­ne »Indivi­dua­lis­mus« führt bei der Mehrzahl heuti­ger Poesie­al­ben­ein­trä­ge zu schlam­pi­gen und meist gedan­ken­los und formlos hinge­schlu­der­ten Nieder­schlä­gen. Leider haben unsere Kinder, ja häufig selbst die Erwach­se­nen, auch für die Inhal­te der 100 Jahre alten Einträ­ge keinen Sinn mehr; ja, es reicht nicht einmal mehr für ein mildes Lächeln. Was einst die Urgroß­el­tern schrie­ben, ist weniger als Geschich­te, ist sozusa­gen nichts.

Natür­lich kann man argumen­tie­ren: Was die Kinder damals vor 100 Jahren geschrie­ben haben, das sei zumeist nicht kindge­mäß. Dieser Kritik ist in Teilen sicher­lich gestat­tet — und sie belus­tigt den Unver­stand. Darum geht es aber gar nicht: Es geht darum, dass wir uns bei der Lektü­re der Einträ­ge konstruk­tiv in eine uns fremd gewor­de­ne Zeit hinein­zu­den­ken, in der Lage sein müssen — auch wenn wir ihre Ideale nicht für erstre­bens­wert erach­ten — weil wir sonst den Faden in die Vergan­gen­heit verlie­ren. Die Unfähig­keit, diese Leistung erbrin­gen zu wollen — das ist der entschei­den­de Mangel.

Wie abgese­hen davon leicht gesehen werden kann, fördert der »zwang­lo­se Indivi­dua­lis­mus« weder die Quali­tät der Inhal­te noch die Form der Poesie­al­bums­bei­trä­ge.
Welch ein Fortschritt also?

Hier nun ein paar in Druck­schrift übersetz­te Beispie­le aus der Zeit um 1900 plusminus.

Oberkochen

1) Gottes Wort zum Rat, Gottes Kraft zur That. So wird die Zeit in Freud und Leid In Fried & Streit eine sel’ge Saat zur Ewigkeit.
Zur Erinne­rung an deinen Vater
Oberko­chen, im April 1899

Oberkochen

2) Freund­lich räumst Du mir ein Plätz­chen hier in Deinem Album ein, möcht auch ich in Deinem Herzchen niemals ganz verges­sen sein.
Zur steten Erinne­rung an Deine Dich lieben­de Freun­din Emma Eurich
Oberko­chen, den 17. Septem­ber 1906

Oberkochen

3) Glück­lich wie ein Maien­re­gen dessen Duft das Herz erfreut, Ungetrübt von Leid u. Sorgen bleib Dein Leben so wie heut
Zum Andenken an Marie Kopp
Oberko­chen, 6. Jan. 1901

Oberkochen

4) Drei Engel sollen Dich beglei­ten Zu Deiner ganzen Lebens­zeit und diese Engel die ich meine sind Liebe Glück Zufrie­den­heit.
Zum Andenken von Deinem Bruder Kaspar Schee­rer
Oberko­chen, den 2. Mai 1898

Oberkochen

5) Es blüht ein Blümel­ein Beschei­den­heit, der Mädchen Kränz­lein und Ehren­kleid: Wer solches Blümlein sich erhält, dem blühet golden die ganze Welt.
Zum Andenken an Anna Dietrich

Oberkochen

6) Im Glücke nicht jubeln, im Sturme nicht zagen, Das Unver­meid­li­che mit Würde tragen, An Gott und eine besse­re Zukunft glauben, Heißt Leben und dem Tod sein Bitte­res rauben.
Zur freund­li­chen Erinne­rung an Deinen Vetter Fried­rich Haidlen
Oberko­chen, den 29. Juli 1901

Oberkochen

7) Wenn Du ein Herz gefun­den Das treu mit Dir es meint In gut und bösen Stunden Sei eng mit ihm vereint
Zum Andenken von Rosa Gutknecht
Oberko­chen, 7. Jan. 1901

Oberkochen

8) Wenn uns Berg u. Hügel trennen, Knüpft uns doch das Freund­schafts­band. »Freun­din« wollen wir uns nennen, Bis wir stehn am Grabes­rand. Und dieser kleine Grabes­hü­gel, Sollte der uns trennen doch? Nein! Das Grab hat keinen Riegel, Freund­schaft dauert ewig fort!
Zum Andenken von Deiner Dich lieben­den Freun­din Marie Ernst.
Oberko­chen, den 31. August 1902

Ver-giß-mein-nicht
(über die 4 Ecken der Seite verteilt, wie das auch heute noch gemacht wird)

Dietrich Bantel

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