Von Aalen über Dessau und Berlin nach Oberkochen

Im letzten Jahr half der Zufall, dass ich über eine Nachba­rin auf die Spur eines außer­ge­wöhn­li­chen Mannes gebracht wurde, der noch vielen Oberko­che­nern in Erinne­rung ist: Wilhelm Spieg­ler. Seine Frau lebt heute, 82 Jahre alt, in Brasi­li­en. Leser der »Schwä­bi­schen Post« mögen sich an ihre Berich­te aus Brasi­li­en im Rahmen der »Weihnachts­grü­ße aus aller Welt«, 1990 und 1999, entsinnen.

Ich habe Frau Spieg­ler gebeten, dem Heimat­ver­ein über die ungewöhn­li­che und bemer­kens­wer­te Geschich­te Ihres Mannes zu berich­ten — und sie hat dieser Bitte in hervor­ra­gen­der Weise entsprochen.

Wir werden ihren spannen­den Bericht in 5 Folgen veröffentlichen.

Wilhelm Spieg­ler war das, was das Schwä­bi­sche Lexikon unter »Difte­le« aufführt. Manch­mal heißt es auch »Diftler«. Missra­ten verhoch­deutscht heißt das »Tüftler«. Unter »tüfteln« steht im Duden: Umgangs­deutsch für »eine kniffe­li­ge Aufga­be mit Ausdau­er zu lösen suchen«.

Gemeint ist mit »Difte­le« meist einer, der in schwie­ri­gen Situa­tio­nen aus nichts etwas macht, und dies mit großer Sorgfalt und Erfin­der­geist. Die echten »Difte­le« gibt’s vor allem in Süddeutsch­land.
Entschul­di­gung.

In unserem Heimat­mu­se­um befin­den sich auf der Bühne in der »Bären­höh­le« 2 Expona­te, die von Wilhelm Spieg­ler konstru­iert wurden, — einmal ein »Feuer­zeug«, mit dem man in schwie­ri­ger Nachkriegs­zeit, als Streich­höl­zer Mangel­wa­re waren, Feuer machen konnte; und dann eine »Kartof­fel­pres­se«, die man in Süddeutsch­land dringend benötigt, um Kartof­fel­brei herzu­stel­len.
Ich will nichts vorwegnehmen.

Hier ist der Bericht von Frau Spieg­ler aus Brasilien.

Dietrich Bantel

Mein Mann Wilhelm Spieg­ler wurde am 30. Mai 1912 in Aalen, Sprit­zen­haus­platz, geboren.

Seine Mutter Maria geb. Wanner hatte dort ein Kurzwa­ren­ge­schäft und ihr Bruder Karl Wanner war der Besit­zer des Spiel­zeug­la­dens. 1916 und 1918 wurden die beiden Schwes­tern Maria und Rosa geboren, danach noch ein Junge, der aber im Vorschul­al­ter an Diabe­tes starb.

Oberkochen

Mein Mann verleb­te dort seine Kindheit. Er ging dort zur Volks- und Realschu­le und trat 1926 als Werkzeug­mach­er­lehr­ling bei den Rieger­wer­ken, Aalen, ein. Er besuch­te auch die Berufsschule.

Nach Beendi­gung der Lehrzeit ging er in die USA, wo er zunächst auf der Farm seines Onkels, nahe Philadel­phia, arbei­te­te. Dann, in Philadel­phia, arbei­te­te er als Werkzeug­ma­cher in verschie­de­nen Firmen für Stanz- und Schnitt­werk­zeu­ge, auch Großwerk­zeu­ge, und im Werkzeug- und Vorrichtungsbau.

In welchem Jahr weiß ich nicht mehr, schied meines Mannes Vater, der Mitin­ha­ber der Motor­rad­fa­brik Gebr. Spieg­ler war, aus der Firma aus und zog nach Oberko­chen ins »Untere Werk«. Sie kauften dann das Grund­stück in der Sperber­stra­ße Nr. 3 und bauten das Haus, einschl. Werkstatt, denn der Vater arbei­te­te nun selbstän­dig. Er nahm wohl zuerst Lohnar­beit an, aber zu meiner Zeit in Oberko­chen baute er auch Maschi­nen, die auf techni­schen Messen beacht­li­chen Absatz fanden.

Nach der Rückkehr aus den Verei­nig­ten Staaten in 1933 arbei­te­te mein Mann in der Kurbel­wel­len­fa­brik Alfing­wer­ke in Wasser­al­fin­gen als Werkzeug­ma­cher und Lehren­bau­er, wo er auf dem Gebiet der Kurbel­wel­len große Erfah­run­gen sammeln konnte. Dort hat er größten­teils selbst die Spezi­al­kur­bel­wel­len für die damali­gen Merce­des-Rennwa­gen angefertigt.

1936 war er als Dreher bei der Firma Leitz, Oberko­chen, beschäf­tigt. Zu der Zeit legte er auch seine Prüfung als Maschi­nen­bau­meis­ter vor der Handwerks­kam­mer in Ulm mit gutem Erfolg ab.

In den dreißi­ger Jahren (wann, weiß ich nicht genau) erkrank­te seine Mutter an Lungen­ent­zün­dung. Als mein Man des Nachts Medizin für sie aus der Aalener Apothe­ke holen wollte, fuhr er mit seinem Motor­rad auf einen unbeleuch­te­ten Lastwa­gen auf. Mit einem Handge­lenk- und Beinbruch sowie einer schwe­ren Verlet­zung an der Stirn über dem linken Auge kam er ins Kranken­haus. Seine Mutter starb an der Lungen­ent­zün­dung.
Nach dem Tod der Mutter heira­te­te der Vater wieder und die Kinder gingen nach einiger Zeit aus dem Haus.

Mein Mann fand eine Stellung als Meister bei der Firma Land- und Seeleicht­bau in Dessau-Rosslau. Dort war er in der Abtei­lung Flugzeug­fahr­werk­bau tätig, wo ihm später zusätz­lich die Leitung der Abtei­lung Vorrich­tungs- und Werkzeug­bau übertra­gen wurde.

Dann las er eine Anzei­ge der Deutschen Hough­ton, Magde­burg, einer Firma, die Härte­sal­ze und Härte­öle herstell­te und die für ihre Lohn- und Versuchs­här­te­rei in Berlin-Adlers­hof einen Härte­meis­ter suchte. Er bewarb sich dort. Da ihn das Gebiet schon immer inter­es­sier­te, hatte er sich entspre­chen­des Wissen durch Bücher angeeig­net, und nach Vorstel­lung in Magde­burg und entspre­chen­den Tests wurde er einge­stellt. Am 2. Januar 1938 trat er seine Stellung in Berlin an.

Ich war zu der Zeit 20 Jahre alt und Sekre­tä­rin in der Firma. Mein Chef bat mich, freund­li­cher­wei­se auch vorerst für »Spieg­ler« zu schrei­ben, was ich gern tat, bis er seine eigene Schreib­mam­sell bekam. Aber dazu kam es dann gar nicht, weil er nur mich wollte und nach kurzer Zeit machte er mir einen Heiratsantrag.

Da er mir gefiel, auch weil er Schwa­be war, überleg­te ich es mir, denn der Funke war längst überge­sprun­gen. Von da ab unter­nah­men wir viele Dinge gemein­sam. Er ließ sich zunächst sein »Spiegler«-Motorrad kommen, das ich als seine Sozia auspro­bie­ren musste. Da er immer sehr schnell fuhr und ich das gar nicht gewöhnt war, hatte ich manch­mal Angst, Also kaufte er nach kurzer Zeit eine BMW-Maschi­ne mit Beiwa­gen, und mit ihr erkun­de­ten wir sonntags bei schönem Wetter die Umgebung Berlins. Wir sprachen über unsere Pläne und hatten auch schon eine möblier­te Wohnung in Aussicht, sprachen sogar über ein eventu­el­les Auswan­dern, aber das Glück ist ein Schlin­gel, ein frecher Patron. Drückt schnell auf die Klingel und läuft dann davon.

Es war im Septem­ber, als ich bezahl­te Überstun­den machte, an einem Samstag, als sich mein lieber Willi unerlaub­ter­wei­se im Labor zu schaf­fen machte und irgend­ein Zeug im winzi­gen Tiegel zum Schmel­zen brach­te. Irgend etwas lief schief. Mit einem großen Knall flog der Tiegel in die Luft und ein Teil des Inhalts bekam mein Willi ins Gesicht und vor allem in die rechte Gesichts­hälf­te und ins Auge. Ich rief schnell den Notarzt, der ihn in die Chari­té brach­te. Am Sonntag fuhr ich in die Chari­té, um ihn zu besuchen, wurde aber nicht vorge­las­sen. Ich durfte ihn nicht einmal sehen.

Am Montag ging ich dann mit einem schlech­ten Gewis­sen ins Geschäft, denn ich musste meinem Chef Rede und Antwort stehen. Mein Chef sagte nur: »Frl. Krüger, Sie hätten …«. Ja, das wusste ich selbst, aber das Labor war ja nicht abgeschlos­sen und er hätte sich auch nicht davon abhal­ten lassen, da ein bisschen zu mischen. Es wurde dann der Vorfall nach Magde­burg berich­tet und ich habe das mit gemisch­ten Gefüh­len geschrie­ben. Aber es kam auch von dort kein Vorwurf und keine Entlas­sung. Den Schaden trug nun der Willi selbst.

Ich besuch­te ihn dann am Montag in der Chari­té, wo er — mit dick verbun­de­nem Gesicht — mit noch drei weite­ren Leidens­ge­nos­sen lag. Als ich der Schwes­ter sagte, ich sei seine Braut, ließ sie mich für 10 Minuten herein, und mein Willi sagte: »Bist Du’s Mädele?«

Er sagte, dass er sich freue, aber ich sollte gleich mal hinun­ter­ge­hen und sehen, ob ich Weintrau­ben kaufen könnte. Zum Glück stand ein Obstwa­gen vor der Chari­té, so dass ich seinen Wunsch erfül­len konnte. Beim Abschied sagte er: »Kommst Du morgen wieder?« Ich sagte »Ja«, erfuhr aber, dass nur montags, mittwochs, freitags und sonntags 2 Stunden Besuchs­stun­de ist.

Von der Kranken­schwes­ter erfuhr ich dann auch, dass die rechte Gesichts­hälf­te und das untere Augen­lid verletzt bzw. verätzt waren und er auch an Sehkraft verlo­ren hätte. Das war eine schlim­me Nachricht.

Nach drei Wochen kam er aus dem Kranken­haus und ich holte ihn ab. Die Firma hatte ihm inzwi­schen eine komfor­ta­ble­re Unter­kunft beschafft, vor allem mit Zentral­hei­zung, da es ja Herbst und kühl war. Nachdem er noch eine Weile ambulant behan­delt wurde und auch in die Firma kam, wo er natür­lich nichts arbei­ten konnte, bekam er ¼ Jahr Ferien. Er fuhr nach Hause und bat mich, ihn Weihnach­ten besuchen zu kommen, was ich versprach und auch tat. Als ich 3 Tage vor Weihnach­ten in Oberko­chen eintraf und große Schnee­flo­cken vom Himmel riesel­ten, weinte ich vor Rührung. Ich genoss eine Woche die Gastfreund­schaft der Familie Braun, denn die Brüder Chris­ti­an und Wilhelm waren seine Freun­de. Ich verleb­te ein schönes Weihnachts­fest und wir fuhren mit dem Motor­rad und Beiwa­gen spazie­ren und das Neue Jahr begrüß­ten wir im »Zeppe­lin« in Stutt­gart. Aller­dings fuhr ich mit einer großen Erkäl­tung nach Berlin zurück.

Irma Spieg­ler

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