Unter­ir­di­sche Ferti­gungs­an­la­ge und Luftschutz­stol­len 1944/45

Die eigent­li­chen Wahrhei­ten einer Zeit liegen in ihren Träumen und in ihren nicht reali­sier­ten Plänen. Sofern die Ideen schon plane­risch aufs Papier gefun­den haben, ist ables­bar, was der Zeitgeist als Äußers­tes gerne verwirk­licht hätte — wenn, oder wenn nicht …

Das ist so mit dem viele Quadrat­ki­lo­me­ter überpla­nen­den 1. Entwurf zu Schloß Schönbrunn/Wien von Fischer von Erlach aus dem Jahr 1688 gewesen, der in seiner bombas­ti­schen Ausfüh­rung dem Sparstift der Vernunft zum Opfer fiel; das ist so mit den meisten Bauten der franzö­si­schen Revolu­ti­ons­ar­chi­tek­tur vor 200 Jahren gewesen, die so kühn sind, daß sie noch heute ihres­glei­chen suchen (z. B. eine ca. 150 m im Durch­mes­ser messen­de Kugel zu mauern … ) und das ist so mit vielen Planun­gen des III. Reiches vor »über 1000 Jahren« gewesen.

Es klingt sonder­bar — aber ausge­rech­net Oberko­chen kann mit einem solchen für das damali­ge Dorf gewal­ti­gen Planwerk aufwar­ten, das ansatz­wei­se sogar verwirk­licht wurde.

Diesem Werk bin ich seit 1980 auf der Spur. Damals war in Oberko­chen das Höhlen­fie­ber ausge­bro­chen und mir wurden als dessen Initia­tor eine Menge kurio­ser Botschaf­ten zugetra­gen — vom unter­ir­di­schen Gang, der angeb­lich vom Griebi­gen Stein bis in den Kloster­hof nach Königs­bronn führt bis hin zu verwor­re­nen Angaben zu einer angeb­lich gegen Kriegs­en­de gebau­ten unter­ir­di­schen Fabrik­an­la­ge, in welcher vom Rüstungs­be­trieb Fritz Leitz Flugzeug­tei­le gefer­tigt worden sein sollen. (Bericht 311 v. 6. 2. 98). Beim Bau des Erschlie­ßungs­stol­lens in die Brunnen­hal­de hinein sollen riesi­ge Natur­höh­len angeschnit­ten worden sein.

Mein 1980 erfolg­ter Besuch bei der Firma Carl Zeiss, die sich in diesem Bereich nach dem 2. Weltkrieg angesie­delt hatte, ergab folgen­des: Ein Herr Wiedemann, in der CZ-Bauab­tei­lung damals für den Stollen zustän­dig, brach­te mich mit einem Herrn Martin aus Königs­bronn einst Mitglied im Wollen­loch­club, zusam­men, der mir eine von ihm gefer­tig­te Skizze zum Stollen­grund­riß mit Datum vom 3. 1. 1977 vorlegte.

Auf ihr sind die angeb­lich großen Höhlen­räu­me einge­zeich­net. Durch später angebrach­te schrift­li­che Notizen aus anderer Hand (Wiedemann) wurden diese Hohlräu­me jedoch durch Korrek­tur mit Datum vom 25.10.1978 als »Märchen« bezeich­net. Dieser myste­riö­se Wider­spruch ist bis heute ungelöst, genau­so wie die Frage, ob seitens der Firma Carl Zeiss irgend­wel­ches Inter­es­se bestand, mögli­cher­wei­se tatsäch­lich vorhan­de­ne Hohlräu­me hinweg­zu­wis­sen. Herr Martin sagte jeden­falls am 9.4.1980 mir gegen­über aus, daß das »Märchen« (genau­ge­nom­men wohl »sein Märchen«??) von den Höhlen im Brunnen­berg noch immer in der Bevöl­ke­rung herum­geis­tert. Seltsam. Das Märchen dürfte auch im Zusam­men­hang mit der der Phanta­sie entsprun­ge­nen Höhle in unserem Bericht 311 stehen.

Herr Wiedemann berich­te­te mir am 9.4.1980, daß er an jenem 25.10.1978 zusam­men mit Herrn Martin eine »offizi­el­le« Begehung des tatsäch­lich vorhan­de­nen Stollens vorge­nom­men habe. Die Ergeb­nis­se sind in den gemein­sam von Herrn Wiedemann und Herrn Martin gefer­tig­ten, jedoch von Herrn Martin nicht unter­zeich­ne­ten Lageplan vom 25.10.1978 einge­zeich­net, der mir ebenfalls in Kopie vorliegt. Die Bemer­kun­gen an den entspre­chen­den Stellen in diesem »amtlich« überar­bei­te­ten Märchen Stollen­grund­riß, der dem heuti­gen versie­gel­ten »Ist-Befund« wohl ziemlich nahe kommt, lauten:

Stollen­be­ge­hung am 25.10.78. Wde (Wiedemann) und Martin
Stollen­soh­le ca. 1.00 m unter OKF Bau XXVII­Ia
1) Einsturz­ge­röll vom April 1971,
2) zubeto­nier­ter Stollen,
3) ausbe­to­nier­ter Raum mit LS (Luftschutz) Tür ca. 2.00÷5.00 m
4) Stollen noch in Beton­scha­lung
5) mit Stollen­ver­bau einge­stürz­ter Verbau (?)
6) Massi­ver Fels ohne Einsturz­ge­fahr
7) krankes Felsge­stein — Einsturz­ge­fahr
8) zugemau­ert
9) Gangen­de eingestürzt

Herr Wiedemann war damals bereit, mich in den Stollen, dessen einer Eingang sich mit einer Stahl­tür verschlos­sen im EG des heuti­gen Baus XIV Feintei­le­rei befand, hinein­zu­las­sen — es zeigte sich jedoch, daß vor der Tür ein physi­ka­li­scher Langzeit­ver­such aufge­baut war, den abzubau­en enorme Schwie­rig­kei­ten bedeu­tet hätte.

Zu einem späte­ren Zeitpunkt war mein ehema­li­ger Schüler Dipl. Geolo­ge Dr. Hans Joachim Bayer in dem Stollen und bestä­tig­te die korri­gier­ten Angaben der Herren Wiedemann und Martin im wesent­li­chen. Herr Bayer berich­te­te seiner­zeit aller­dings auch von einem zubeto­nier­ten Stollen­gang. Ein solcher ist im ursprüng­li­chen Plan von Herrn Martin (3.1.1977) einge­zeich­net, dort von Herrn Wiedemann ausge­stri­chen und im Plan vom 25.10.1978 nicht mehr vorhan­den. Für Speku­la­tio­nen scheint mir hier aber nicht der richti­ge Ort zu sein.

Oberkochen
Oberkochen

Sechs Jahre später, 1986, stieß ich im Zusam­men­hang mit meinen Nachfor­schun­gen zum »Oberko­chen des III. Reichs« fürs Heimat­buch erneut auf den ominö­sen Stollen. Herr Wiedemann war kurz zuvor verstor­ben und ich wurde seitens der Fa. CZ an Herrn Growe und Frau Blache (Referat Kießling, Bauwe­sen) verwie­sen, die mir bereit­wil­lig die gesam­ten Unter­la­gen zum Leitz-Stollen zur Einsicht vorleg­ten. Frau Blache lichte­te mir auf meinen Wunsch die mir aus der damali­gen Sicht inter­es­san­tes­ten Unter­la­gen ab. Dies waren:

  1. der faszi­nie­ren­de große ursprüng­li­che Plan für eine unter­ir­di­sche Ferti­gungs­an­la­ge der Firma Fritz Leitz vom Mai 1944. Der linke Teil der Ferti­gungs­stol­len war übrigens laut Plan nicht für Fritz Leitz/Rüstungsbetrieb, sondern für die Firma Gebr. Leitz vorge­se­hen.
    Wir werden den Plan in Bericht 340 am 16. April veröffentlichen.
  2. einen Gesamt­plan der reduzier­ten Anlage vom Septem­ber 1944. Auch diesen Plan werden wir am 16. April veröffentlichen.
  3. einen 55/67 cm großen detail­lier­ten Plan zur reduzier­ten Anlage — ohne Datum, jedoch frühes­tens vom Septem­ber 1944. Diesen Plan habe ich in verein­fach­ter Form im Heimat­buch auf Seite 195 veröf­fent­licht. Herr Archi­tekt Kennt­ner war seiner­zeit so freund­lich gewesen, den Plan in einen 1986 gülti­gen Lageplan einzu­zeich­nen.
    Auf diesen Plan möchte ich in zwei geson­der­ten Beiträ­gen (340 und 341) einge­hen, da er tiefen Einblick in die Planun­gen des Rüstungs­be­triebs Fritz Leitz gibt. (Veröf­fent­li­chung des Plans in Bericht 341 vom 30. April).
  4. Die Kopie eines Schrei­bens der Fa. Fritz Leitz vom 21.6.44 (gez. Seyfried) an den Herrn Bevoll­mäch­tig­ten des Reichs­mi­nis­te­ri­ums Speer im Bezirk der Rüstungs­in­spek­ti­on V, in 14 Stutt­gart N, Jäger­stra­ße 15.
    In diesem Schrei­ben wird um Geneh­mi­gung ledig­lich zum Bau eines Luftschutz Stollen­baus und um Bezugs­schei­ne für wenigs­tens einen Teil des erfor­der­li­chen Materi­als ersucht. (ca. 15 Tonnen Zement, 5000 Backstei­ne, 50 cbm Rundholz).
  5. Die Kopie eines Schrei­bens der Fa. Fritz Leitz vom 28.6.44. (gez. Seyfried) an die Werkluft­schutz-Bereichs­stel­le Württ.-Hohenz. der Reichs­grup­pe Indus­trie in Stutt­gart N, Jäger­stra­ße 64, aus welchem hervor­geht, daß der Firma Fritz Leitz mit Schr. v. 24. 6. mitge­teilt worden war, daß es z. Zt. nicht möglich ist, die erfor­der­li­chen Baustof­fe zur Verfü­gung zu stellen. Die Firma will wissen, wie sie sich bezüg­lich des gesetz­lich vorge­schrie­be­nen Stollen­baus verhal­ten solle. Anmer­kung DB: Inwie­weit die Firma Fritz Leitz den Bau der unter­ir­di­schen Fabrik­an­la­ge durch den paral­lel dazu laufen­den Bau des Luftschutz­stol­lens kaschier­te, war bis heute nicht zu klären. Ein wichti­ger Zeitzeu­ge sagte ledig­lich aus, daß »diese ganze Bauerei auch für die Betriebs­an­ge­hö­ri­gen völlig geheim gewesen sei, und daß er hierzu nichts aussa­gen könne«.
  6. Die Kopie eines weite­ren Schrei­bens der Firma Fritz Leitz mit Datum vom 11.12.44 an den Bürger­meis­ter der Gemein­de Oberko­chen, in welchem die Gemein­de gebeten wird, sich dafür zu verwen­den, daß wenigs­tens so viel Zement bezogen werden kann, daß »die weniger überdeck­ten Anfangs­stol­len unter­baut werden können«.

Aus diesen Unter­la­gen und Schrei­ben ist dreier­lei ersicht­lich: Erstens, daß die Firma Fritz Leitz den Gedan­ken an die Erstel­lung der riesi­gen unter­ir­di­schen Ferti­gungs­an­la­ge spätes­tens gegen Ende des Jahres 1944 aufge­ben mußte, und daß sie zweitens nur noch bemüht war, jedoch auch dies mit negati­vem Erfolg, den vorde­ren Bereich der geplan­ten bomben­si­che­ren Fabrik als Luftschutz­stol­len für Firmen­an­ge­hö­ri­ge auszu­bau­en, wozu sie wie gesagt laut Gesetz verpflich­tet war. Die Kosten sind mit Datum vom 25.10.1944 auf RM 19.500.- hochge­rech­net, die für die zu dieser Zeit sicher schon utopisch gewor­de­ne reduzier­te Ferti­gungs­an­la­ge auf RM 71.000,- .

Es kann drittens davon ausge­gan­gen werden, daß in den ersten 4 Monaten des Jahres 1945 an dem Stollen nur noch Rohbau­ar­bei­ten getätigt wurden, sich jedoch den Ausbau betref­fend nicht mehr viel, wahrschein­lich gar nichts mehr, getan hat, da schlicht und einfach kein Bauma­te­ri­al mehr zu bekom­men war, d.h., die »Träume« von der großen unter­ir­di­schen Fabrik in Oberko­chen sind im Kriegs­en­de verpufft. Was letzt­lich geblie­ben ist, das sind meine Kopien der Origi­nal­plä­ne und ein paar Rohbau-Stollen, ein Stück ausge­bau­ter Stollen im Bereich des Luftschutz­kel­lers und der Luftschutz­kel­ler selbst. Es ist davon auszu­ge­hen, daß die Arbei­ten von den russi­schen Zwangs­ar­bei­tern oder Kriegs­ge­fan­ge­nen getätigt wurden, die in Bericht 315 vom 3.4.1998 als in Lager 3 unter­ge­bracht bezeich­net wurden.

Leider ist der ganze Origi­nal­ord­ner mit den Unter­la­gen zu der unter­ir­di­schen Fabrik der Firma Leitz bei der Firma Carl Zeiss mittler­wei­le nicht mehr auffind­bar. Vermut­lich sind die lokal­ge­schicht­lich so wertvol­len Unter­la­gen mit Ende der Ära Kießling sogar »entsorgt« worden — d. h., daß ich diesen und den nächs­ten Bericht mögli­cher­wei­se nur der Tatsa­che verdan­ke, daß ich mir seiner­zeit einige Unter­la­gen kopie­ren ließ.

Dem inten­si­ven Bemühen von Herrn Prof. Ramming verdan­ken wir es, daß im Archiv von Carl Zeiss kürzlich eine Reihe von undatier­ten Fotos aufge­spürt wurde, die den Stollen zeigen, ehe die Eingän­ge zugemau­ert wurden. (Aufnah­me­da­tum ca. 1994/95). In den nächs­ten beiden Berich­ten werden wir einen Teil der Fotos veröffentlichen.

Dietrich Bantel

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