Am 21. Juni 1852 schrieb Pfarrer Dürr ins Proto­koll des Evange­li­schen Kirchenkonvents:

»Am gestri­gen Sonntag­mor­gen erschien Polizei­die­ner Müller und beklag­te sich über den ledigen Melchi­or Grün (*), Schmied­ge­sel­le von hier, der am Samstag, als er nachts 10 Uhr an der Tür des Pfarr­hau­ses stand, gegen ihn grobe Reden und Beschul­di­gun­gen ausge­sto­ßen habe … « Darauf­hin machte sich der Evange­li­sche Kirchen-Convent große Mühe, um diesen nächt­li­chen Vorfall aufzu­klä­ren (wir berich­te­ten schon darüber). Nachdem sich das ans Pfarrer Dürr, Schult­heiß Wingert und den Räten Widmann, Sapper, Wirth und Mek bestehen­de Gremi­um am 21. Juni nach Anhörung von Polizei­die­ner Müller und dessen Kontra­hen­ten Melchi­or Grün vertagt hatte, wurde der wahrhaf­tig nicht »kurze Prozeß« am folgen­den Tag fortgesetzt.

Freche Lügen
Zunächst wurde dem Polizei­die­ner die Aussa­ge seines Kontra­hen­ten vorge­le­sen, der behaup­tet hatte, Müller habe die Pfarr­magd im Arm gehal­ten und dann, als er dazwi­schen gefah­ren sei, kläglich gebet­telt, er solle ja darüber nichts verlau­ten lassen. Dazu konnte Müller nur mit den Achseln zucken und die Aussa­ge »als freche Lüge mit Entrüs­tung zurück­wei­sen«: Das Ganze sei ein Rache­akt junger Burschen und deren Rädels­füh­rer Grün, weil er sie kürzlich wegen des Unfugs in der Mainacht angezeigt habe.

Falsche Zeugen?
Als erster Zeuge wurde Jonathan Honokel (*), Roßknecht des Hirsch­wirts, vernom­men, der dem Trio Grün, Wildmeis­ter, Itzel­ber­ger (*) den entschei­den­den Tip gegeben hatte. (*): Namen geändert!
Honokel wollte »vom Hinter­hof des Hirsch­wirts­hau­ses in einer Entfer­nung von kaum 20 Schrit­ten Polizei­die­ner Müller erkannt und gesehen haben, wie dieser die Magd umarm­te«. Daß Müller bettel­te, nichts nach außen verlau­ten zu lassen, hatte der Roßknecht jedoch nicht gehört. Dagegen behaup­te­te Johann Georg Wildmeis­ter als zweiter Zeuge genau das Gegen­teil und gab zu Proto­koll: »Daß Müller die Magd im Arm hatte, habe ich nicht gesehen«, räumte jedoch ein, Müller sei Grüns barschen Reden öfters mit »nur still, nur still, ich muß mich schämen« entge­gen­ge­tre­ten«. Auch der dritte Zeuge, Johann Georg Itzel­ber­ger konnte sich nicht erinnern, Zudring­lich­kei­ten des Polizei­die­ners gesehen zu haben. Aller­dings sei davon die Rede gewesen, still zu sein und keinen großen Lärm zu machen.

Damit wurden die Unter­su­chun­gen »zu später Stunde« wieder­um vertagt, und zwar ohne die Pfarr­magd, die doch zweifel­los eine Schlüs­sel­stel­lung bei der gesam­ten Angele­gen­heit innehat­te, zu Worte kommen zu lassen. Ob dies bei der nach vier Tagen einbe­ru­fe­nen Verhand­lung noch beabsich­tigt war, oder ob Pfarrer Dürr seine Magd aus der Sache heraus­hal­ten wollte, läßt das Proto­koll nicht erkennen.

Polizei­die­ner Müller nützte jedoch die Verta­gung, um den Tatort nochmals genau zu inspi­zie­ren, — und dabei machte er eine Entde­ckung, welche die Situa­ti­on zu seinen Gunsten radikal verän­dern sollte.

Entschei­den­der Lokal­ter­min
Vier Tage später trat der Kirchen­kon­vent wieder in Sachen Müller gegen Grün zusam­men. Nach Verle­sung der bislang angefal­le­nen Proto­koll­no­ti­zen wies der Polizei­die­ner die Anschul­di­gun­gen der vier Burschen wieder­um als Rache­akt zurück. Dann aber tisch­te er der Kommis­si­on seine »Entde­ckung« auf und sagte: »Es ist gar nicht möglich, vom Hinter­hof des Hirsch die untere Eingangs­tür des Pfarr­hau­ses zu sehen«.

Diese Feststel­lung schlug wie eine Bombe ein. Der Konvent beraum­te augen­blick­lich einen Lokal­ter­min an, begab sich in den Hinter­hof des Hirsch, Müller stell­te sich an der Tür zum Pfarr­haus auf (nur auf die Magd wurde verzich­tet) — und siehe da, Grün konnte tatsäch­lich nicht gesehen haben was auch immer an der Tür des Pfarr­hau­ses gesche­hen sein mochte!

Urteil
Als sich diese Erkennt­nis beim Kirchen­kon­vent durch­ge­setzt hatte, atmeten alle Mitglie­der hörbar auf. Nun konnten sie endlich nach dreitä­gi­gen Beratun­gen ein Urteil fällen. Melchi­or Grün erhielt, »um dem gekränk­ten Polizei­die­ner Satis­fak­ti­on zu verschaf­fen«, eine Geldstra­fe über 1 Gulden 30 Kreuzer, Jonathan Honokel hatte »1 Gulden zu bezah­len wegen Anstif­tung zum Unfug und unrich­ti­ger Angaben«. Die beiden anderen Betei­lig­ten, die nur aus siche­rer Entfer­nung zugeschaut hatten, blieben ungeschoren.

Oberkochen

Nun wurden die Verur­teil­ten in der »Rekurs­be­leh­rung« noch über die Einspruchs­mög­lich­kei­ten unter­rich­tet. Doch erschie­nen Grün und Honokel einen Tag später bei Pfarrer Dürr mit »der Erklä­rung, die kirchen­kon­vent­li­che Strafe anzuer­ken­nen und diesel­be bezah­len zu wollen«.

Nach all diesem scheint der Polizei­die­ner vollstän­dig rehabi­li­tiert nicht mehr in Faden­kreuz der ledigen Burschen gestan­den zu haben, zumal auch Pfarrer Dürr verspro­chen hatte, »Müller, gegen dessen sittli­ches Betra­gen nicht das mindes­te Nachtei­li­ge gesagt werden kann«, künftig kräftig zu unter­stüt­zen, »wenn er versucht, dem rohen Treiben der ledigen Leute Einhalt zu gebieten«.

Volkmar Schrenk

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