In Bericht 316 vom 3.4.1998 berich­te­te Kurt Elmer davon, daß ein Teil der Russen, die, zusam­men mit anderen Lands­leu­ten, mögli­cher­wei­se auch Polen, nach Kriegs­en­de den Überfall auf den Theußen­berg am Nachmit­tag des 11. Juni 1945 auf dem Gewis­sen haben, sich zu dieser »Straf­ak­ti­on« vor dem Haus Elmer im Kapel­len­weg zusam­men­rot­te­te. Einige von ihnen kamen beleg­bar aus Lager 6 im Kapel­len­weg, andere aus den Lagern 1 und 3 auf dem Werks­ge­län­de der Firma Fritz Leitz und aus anderen Lagern außer­halb Oberkochens.

Durch inten­si­ve Nachfor­schun­gen ist es nun möglich, ein halbwegs klares Bild von diesem furcht­ba­ren Nachkriegs­blut­bad zu zeich­nen, von dem auch in Oberko­chen bis auf den heuti­gen Tag gespro­chen wird. Meine Infor­man­ten sind:

Karl Reiff, Essin­gen, 80 Jahre alt, Sohn des damals ermor­de­ten Pächters und dessen Ehefrau Wilhel­mi­ne Reiff, Essin­gen.
♦ Eine weite­re wichti­ge Zeitzeu­gin ist Else Gorol geb. Frank, 70 Jahre alt, die die 3 Überfäl­le vor 53 Jahren als 17-jähri­ges Mädchen miter­leb­te sowie
Horst Worbs, Essin­gen, 73 Jahre alt, der den letzten Überfall am 11.6.1945 wie durch ein Wunder überleb­te.
♦ Ferner berufe ich mich auf einen kurzen Artikel in der Schwä­bi­schen Post vom 11. Juni 1965, der anläß­lich der 20. Jährung des Überfalls unter dem Titel »Die Mordbren­ner auf dem Theußen­berg« erschie­nen ist (wird, wo notwen­dig, zitiert),
♦ und einen Bericht von Adolf Dicken­herr, Oberko­chen, der am 11.6.1945 im Wolfert­s­tal als 12-jähri­ger Junge Zeuge der Rückkehr eines Teils der Mörder­trup­pe gewor­den ist. Sein mündli­cher Bericht stammt vom 26. März 1998. Herr Dicken­herr hat die Richtig­keit meiner schrift­li­chen Nieder­le­gung wenige Tage vor seiner schlim­men Erkran­kung, die zu seinem frühen Tod führte, bestä­tigt. Der Heimat­ver­ein trauert um ein treues und inter­es­sier­tes Mitglied.
♦ Ferner bezie­he ich mich auf Aussa­gen von Kurt Elmer und Bernhar­di­ne Riedmül­ler, beide Oberko­chen. Die beiden noch leben­den Augen­zeu­gen, Else Gorol und Horst Worbs, bestä­tig­ten die Richtig­keit meiner nun, nach über einem halben Jahrhun­dert vorlie­gen­den ersten ausführ­li­chen schrift­li­chen Beschrei­bung der Überfäl­le auf den Theußen­berg, was vor allem im Hinblick auf die Richtig­stel­lung von falschen Überlie­fe­run­gen, die Oberko­chen betref­fen, von Bedeu­tung ist. Dafür herzli­chen Dank. Herr Reiff, Sohn des ermor­de­ten Pächters, sind wir für seinen schrift­li­chen Bericht dankbar und außer­dem für die Beschaf­fung von fotogra­fi­schem Materi­al bei der Familie Bachmann (jetzi­ge Besit­zer vom Theußenberg).

Zunächst sind einige schie­fe Überlie­fe­run­gen zurechtzurücken.

Erstens sind nach Aussa­ge und Erinne­rung von allen Befrag­ten entge­gen anderen Überlie­fe­run­gen während dem Krieg auf dem Theußen­berg keine Zwangs­ar­bei­ter aus Oberko­chen beschäf­tigt gewesen, so daß es sich bei dem Überfall auch nicht um einen Rache­akt für angeb­lich schlech­te Behand­lung der Zwangs­ar­bei­ter während ihrer Arbeits­zeit auf dem Theußen­berg gehan­delt haben kann.

Zweitens hat nicht nur ein Überfall auf den Theußen­berg statt­ge­fun­den, sondern es waren insge­samt drei inner­halb von 5 Tagen zwischen der Nacht vom 6./7. Juni und dem Nachmit­tag des 11. Juni 1945.

Drittens sind bei dem Überfall nicht 2, sondern 3 Menschen ermor­det worden. Zusam­men mit einem Russen sind 4 Menschen umgekom­men. Es gab überdies eine Reihe von Verletzten.

Viertens wurde nicht nur das neue Wirtschafts­ge­bäu­de 4 in Brand gesteckt, sondern alle 3 Gebäu­de des Anwesens, also auch die Gebäu­de 1/2 und 5/6, wobei die Brände im Wohnge­bäu­de 1 gelöscht werden konnten, das Wirtschafts­ge­bäu­de 4, der Heusta­del 5 und der Maschi­nen­schup­pen 6 jedoch völlig nieder­brann­ten. Außer­dem wurden zahlrei­che Schwei­ne ein Opfer der Flammen.

Fünftens waren zumin­dest am 3. Überfall nicht nur Oberko­che­ner Zwangs­ar­bei­ter aus Rußland und Polen betei­ligt, sondern auch solche aus anderen Orten. Genannt wurde Wasseralfingen.

Sechs­tens kam entge­gen anderen Überlie­fe­run­gen kein Russe oder Pole um, als die Ameri­ka­ner im Wolfert­s­tal einen Teil der Mörder stell­ten. Dagegen kam beim 2. Überfall auf den Theußen­berg ein junger russi­scher Zwangs­ar­bei­ter aus Oberko­chen ums Leben.

Siebtens kann durch überein­stim­men­de Aussa­ge aller Befrag­ten eindeu­tig nachge­wie­sen werden, daß sich, entge­gen Gerüch­ten, die in Oberko­chen bis auf den heuti­gen Tag kursie­ren, zu keinem Zeitpunkt Oberko­che­ner deutsche Solda­ten auf dem Theußen­berg aufge­hal­ten haben und somit auch keine Oberko­che­ner Solda­ten in Schie­ße­rei­en und andere Kampf­hand­lun­gen, insbe­son­de­re den ominö­sen Rückwurf einer Handgra­na­te, verwi­ckelt gewesen sind.

Zur Geschich­te der Überfäl­le
Nach ähnli­chen aber unblu­ti­gen Überfäl­len auf die einsa­men Essin­ger Hofgü­ter Tauchen­wei­ler (Pfings­ten 1945) und Prinzeck, war vom 6. ‑11. Juni 1945 der Theußen­berg Ziel von Plünde­run­gen. Über das Kriegs­en­de hatte eine Stutt­gar­ter Firma Texti­li­en auf dem Theußen­berg einge­la­gert. Dies ist, so wird gesagt, den Oberko­che­ner Zwangs­ar­bei­tern über eine auf dem Theußen­berg beschäf­tig­te russi­sche oder polni­sche Magd bekannt gewor­den, was wohl mit ein Grund für den Überfall war. Aller­dings mußte der Theußen­berg nach den Überfäl­len auf die beiden anderen einsam gelege­nen Höfe auch ohne diesen Grund mit einem überfall rechnen. Aus Sicher­heits­grün­den verbrach­ten deshalb die Frauen teilwei­se schon vor den Überfäl­len die Nächte im Dorf. Die Männer hielten während der Nacht nach Möglich­keit Wache.

Der erste Überfall
Kurz vor Mitter­nacht in der Nacht vom 6./7. Juni 1945 — Frau Reiff war soeben im Begriff, zu Bett zu gehen — war plötz­lich Lärm ums Haus. Entge­gen der Schil­de­rung in der Schwä­bi­schen Post vom 11.6.1965 betont Herr Karl Reiff, daß in dieser Nacht nicht geschos­sen wurde. Um Schlim­me­res zu verhü­ten, wurde den ungebe­te­nen Gästen die Tür geöff­net. Der Überfall lief nach dem Muster der Überfäl­le auf den Tauchen­wei­ler und das Hofgut Prinzeck ab: Die Bewoh­ner wurden in einen Raum zusam­men­ge­trie­ben und dort einge­sperrt. Mit einem vollbe­la­de­nen Wagen verlie­ßen die Plünde­rer (im Presse­be­richt SP v. 11.6.1968 ist vermerkt: »Polen und Russen, die aus einem Lager aus Oberko­chen gekom­men waren«) den Hof.

Ab der folgen­den Nacht übernah­men die Männer, verstärkt durch Männer aus dem Dorf, die Nacht­wa­che mit einem Wachpos­ten, der außer­halb des Hofs am Fußweg nach Essin­gen postiert war, war verein­bart worden, daß bei drohen­der Gefahr in einem bestimm­ten Raum das Licht einge­schal­tet würde. In der nächs­ten Nacht blieb es aber ruhig.

Der zweite Überfall
In der Nacht vom 8./9. Juni erfolg­te dann jedoch der zweite Überfall. Auf das ausge­mach­te Licht­zei­chen hin eilte die Wache ins Dorf, um weite­re Hilfe herbei­zu­ho­len. Zuerst, so berich­tet Herr Reiff, wurde versucht, die Ameri­ka­ner zu Hilfe zu bewegen. Der ameri­ka­ni­sche Offizier erklär­te jedoch, bei Nacht dürfe er mit seinen Solda­ten nicht auf den Theußen­berg hinauf, worauf der coura­gier­te junge Mann einige Essin­ger Bürger, die sich zur Hilfe bereit erklär­ten, zusam­men­brach­te. Die Helfer trafen jedoch nach der Schil­de­rung von Karl Reiff, durchs Daumen­tal kommend, erst auf dem Theußen­berg ein, als die Horde mit einem Beute­fahr­zeug bereits auf dem Rückzug war und den Wald (wohl bei 7) erreicht hatte. Dieser Darstel­lung wider­spricht die Augen­zeu­gin Else Gorol. Sie, sowie der Augen­zeu­ge Horst Worbs bezeu­gen, daß die Deutschen und die Russen noch auf dem Gelän­de um den Hof herum aufein­an­der­ge­trof­fen sind. Beim Zusam­men­tref­fen kam es zu einer hefti­gen Ausein­an­der­set­zung, in deren Verlauf es auch zu einer vermut­lich wechsel­sei­ti­gen Schie­ße­rei kam und eine Handgra­na­te gewor­fen worden sein soll. Waffen sind, lt. Frau Gorol, überall auf dem Hof versteckt gewesen, so daß bei dem zweiten Überfall auch die Deutschen Schuß­waf­fen gehabt haben können.

Mindes­tens ein Plünde­rer blieb schwer verwun­det im Hof vor dem neuen Wirtschafts­ge­bäu­de liegen. Er starb bis zum nächs­ten Morgen. Von ihm war, lt. Presse­be­richt, noch in Erfah­rung gebracht worden, daß wenigs­tens 30 Mann an dem 2. Überfall betei­ligt gewesen waren. Ob es noch mehr Verwun­de­te gab, ist nicht bekannt. Die Plünde­rer zogen sich diesmal unter Zurück­las­sung der Beute zurück. Dieser Teil der Beschrei­bung stammt von dem mit den Eltern von Herrn Reiff befreun­de­ten deutschen Offizier Helmut Rusch und ist laut Karl Reiff nicht anzuzweifeln.

Sowohl in Essin­gen als auch in Oberko­chen wird im Zusam­men­hang mit der von den Russen gewor­fe­nen Handgran­te berich­tet, daß sie von einem Deutschen — Herr Worbs erinnert sich, daß es mit großer Sicher­heit der erst vor wenigen Jahren verstor­be­ne deutsche Offizier Helmut Rusch gewesen war — noch vor der Zündung auf die Russen zurück­ge­wor­fen wurde, wo sie explo­dier­te und wobei der junge Russe, der später verstarb, lebens­ge­fähr­lich verletzt worden sein soll. Dem letzten Teil dieser Überlie­fe­rung ist sicher­lich mit Vorsicht zu begeg­nen, da er verherr­li­chen­den Helden­ta­ten-Stories, die auch anders­wo erzählt werden, gleicht.

Die Aussa­ge von Bernhar­di­ne Riedmül­ler belegt dagegen, daß der getöte­te, gerade 20 Jahre alte Russe mit Sicher­heit aus Oberko­chen gekom­men war, und zwar aus einer der Baracken des Fritz-Leitz-Werks­ge­län­des (Lager 1 oder Lager 3). Der Trauer­zug der Russen anläß­lich der Beiset­zung zog am Haus Brunn­hu­ber vorüber, wobei nach Aussa­ge von Bernhar­di­ne Riedmül­ler und Adolf Bäuerle der Sarg offen durch den Ort getra­gen wurde. Zwei evaku­ier­te Mädchen, die gegen Kriegs­en­de im Haus Brunn­hu­ber logier­ten, schau­ten unter­des­sen aus dem Fenster heraus und riefen den vorüber­zie­hen­den Russen in jugend­li­chem Übermut zu. »Heute nix Theußen­berg«. Die dadurch gereiz­ten Russen tauch­ten nach der Beerdi­gung im Haus Brunn­hu­ber auf und wollten wissen, wer das gerufen habe. Da sie keine Auskunft erhiel­ten, kündig­ten sie an, daß sie in der kommen­den Nacht Rabaz machen würden. Die Bewoh­ner des Hauses hatten die ganze Nacht schreck­li­che Angst, aber es ist nichts passiert.

Durch die Klärung der näheren Umstän­de im Zusam­men­hang mit den Überfäl­len auf den Theußen­berg kann nun ein Grab auf dem evange­li­schen Fried­hof Oberko­chen dem bei dem Überfall auf dem Theußen­berg umgekom­me­nen jungen Russen zugeord­net werden. Der Grabstein befin­det sich bei dem der 5 Opfer des Flieger­an­griffs auf den Häftlings­trans­port vom April 1945. Die Grabstein­in­schrift lautet:

Wladi­mir Kolot­schen­ko
22. 2. 1925
11. 6. 1945

Ein Wider­spruch besteht datums­mä­ßig: Wahrschein­lich wurde irrtüm­lich das Datum des großen Überfalls in den Stein geschrie­ben. Richtig müßte das Sterbe­da­tum wohl nicht 11.6.1945, sondern 8.6.1945 lauten.

Zurück zum Theußen­berg
Durch Angaben des Schwer­ver­letz­ten und später verstor­be­nen Russen und entspre­chen­de, in diesem Zusam­men­hang erfolg­te Maßnah­men und Zusiche­run­gen der Ameri­ka­ner konnte man sich auf dem Theußen­berg nun angeb­lich in Sicher­heit fühlen …

Während der beiden folgen­den Nächte geschah tatsäch­lich nichts.

Der dritte Überfall — Montag, 11. Juni 1945
Am dunstig-nebeli­gen Vormit­tag dieses Montags ging man der Arbeit auf dem Feld nach. Der von den Ameri­ka­nern einge­setz­te geschäfts­füh­ren­de Essin­ger Bürger­meis­ter Rotten­ba­cher hatte nach dem 2. Überfall drei sich noch in Essin­gen aufhal­ten­de deutsche Solda­ten zur Verstär­kung auf den Theußen­berg geschickt, die in der Landwirt­schaft mithal­fen. Offen­bar ahnte man nichts Gutes.

An diesem Tag befan­den sich meinen Nachfor­schun­gen zufol­ge insge­samt mindes­tens 16 Perso­nen auf dem Theußen­berg:
♦ Der Pächter des Hofs, Chris­ti­an Reiff, 52 Jahre alt, aus Essin­gen und dessen Frau
♦ Der Schwa­ger des Tübin­ger Hofbe­sit­zers Profes­sor Stadel­mann, Profes­sor Walter Nestle, ca. 45 Jahre alt, aus Ellwan­gen mit Frau und 2 Kindern
♦ Ein Essin­ger Bürger namens Fried­rich Wirth, 39 Jahre alt
♦ Ein 17-jähri­ges Mädchen aus Essin­gen (Else Frank, verh. Gorol)
♦ Eine evaku­ier­te Frau und ein evaku­ier­ter Junge aus Zuffen­hau­sen
♦ Ein Dienst­mäd­chen
♦ Ein Offizier der deutschen Wehrmacht namens Helmut Rusch — ein mit dem Pächter­ehe­paar befreun­de­ter Soldat, der die Rückkehr in seinen franzö­sisch besetz­ten Heimat­ort Großsach­sen­heim noch aufschob.
♦ Ferner waren während des 3. Überfalls zur prophy­lak­ti­schen Verstär­kung vom geschäfts­füh­ren­den Essin­ger Bürger­meis­ter Rotten­ba­cher 2 weite­re deutsche Solda­ten aus Essin­gen, Kurt Hoffmann und Horst Worbs, auf den Theußen­berg beordert worden.
♦ Sowie ein weite­rer in Essin­gen hängen­ge­blie­be­ner Soldat namens Eugen Jäger aus Ibdin­gen bei Vaihingen/Enz
♦ Die russi­sche (wahrschein­lich eher polni­sche) Magd Maria wurde während des 3. und entschei­den­den Überfalls am 11. 6. nicht gesich­tet. Die Frage, ob sie vorge­warnt war, bleibt offen.

Man war eben beim Mittag­essen. Da brachen die Russen und Polen am hellich­ten Tag urplötz­lich von allen Seiten aus dem Wald heraus und stürm­ten in riesi­ger Zahl (Frau Gorol: »Es war, wie wenn d’ Maikä­fer aus’m Feld kommat«) mit fürch­ter­li­chem Geschrei und wild um sich schie­ßend von allen Seiten auf das Anwesen zu; das Anwesen war regel­recht umzin­gelt worden. Viele waren mit grausi­gen Waffen, einige mit langen Schläch­ter­mes­sern, andere mit landwirt­schaft­li­chen Geräten, bewaff­net. Laut SP-Bericht vom 11. 6. 1965 und überein­stim­men­den Berich­ten der beiden noch leben­den Zeitzeu­gen Gorol und Worbs waren es über 100 an der Zahl. Mit Sicher­heit sind sie nicht alle von Oberko­chen gekom­men — auch Wasser­al­fin­gen wird genannt. An ein Entrin­nen war genau­so wenig zu denken, wie an eine echte Gegen­wehr. Es gab zwar, obwohl verbo­ten, versteck­te Waffen auf dem Theußen­berg, aber die waren, bis man sich’s recht verse­hen hatte, nicht mehr erreich­bar. Diesmal machten die Räuber kurzen Prozeß: Drei männli­che Bewoh­ner des Theußen­bergs wurden nicht erst in einen Raum gesperrt, sondern gleich auf grausa­me Weise umgebracht: Der Pächter Chris­ti­an Reiff und Fried­rich Wirth, der an diesem Tag zur Feldar­beit von Essin­gen auf den Theußen­berg herauf­ge­kom­men war, wurden durch zahllo­se Messer­sti­che bestia­lisch ermor­det. Auch der Schwa­ger des Besit­zers, Profes­sor Walter Nestle, wurde auf grausa­me Weise umgebracht. Der deutsche Offizier Helmut Rusch, der wieder als Alarm­pos­ten fungiert hatte, war dem Presse­be­richt zufol­ge mit dem Leben davon­ge­kom­men, weil er von den Mördern vermut­lich für tot gehal­ten und in den Keller gewor­fen worden war. Die drei Solda­ten überleb­ten wie durch ein Wunder — sie hatten sich zuletzt mit Bierglä­sern aus der alten Wirtschaft vertei­digt und in einem günsti­gen Augen­blick versteckt. Horst Worbs sagte, daß sie, wären die Russen und Polen nicht überra­schend früh abgezo­gen, keiner­lei Chance zum Überle­ben gehabt hätten. Auch Else Gorol bestä­tig­te, daß der Überfall sich in kürzes­ter Zeit abspiel­te — »Das ging Ruckzuck«. Auch die Frauen wurden durch Gewehr­kol­ben­schlä­ge (Frau Gorol erhielt einen Kolben­schlag ins Genick und litt lange Zeit an schlim­men Kopfschmer­zen) und durch Messer­sti­che verletzt. (Frau Nestle erlitt einen Nieren­stich.) Sie wurden mit den Kindern schließ­lich ins Backhaus (3) einge­sperrt. Der evaku­ier­te Junge war an der Leiter ins Heu entkom­men und anschlie­ßend unbemerkt ins Freie gelangt. Er soll, sowie die später freige­kom­me­ne Frau des ermor­de­ten Chris­ti­an Reiff, im Dorf Alarm geschla­gen haben.

Ehe sich die Plünde­rer und Mörder zurück­zo­gen, steck­ten sie alle 3 Gebäu­de des Anwesens Theußen­berg, 2 Doppel­ge­bäu­de (1÷2, 5/6) und das Wirtschafts­ge­bäu­de (4) in Brand. Der Frau des ermor­de­ten Pächters, also der Mutter des Infor­man­ten Karl Reiff, war es nach Abzug der Bandi­ten gelun­gen, sich aus dem Backhaus zu befrei­en und Hilfe aus Essin­gen zu holen, die aller­dings viel zu spät kam. Das Wirtschafts­ge­bäu­de mit seinen gemüt­li­chen Gasträu­men, das erst wenige Jahre vor Kriegs­aus­bruch errich­tet worden war, und in welchem sich im 1. Stock auch eine Wohnung des Ehepaars Karl und Wilhel­mi­ne Reiff befun­den hatte, brann­te bis auf die Grund­mau­ern nieder.

Ein Teil des Viehs, vor allem Schwei­ne, fielen den Flammen zum Opfer.

Das Feuer im Wohnge­bäu­de und der alten Wirtschaft — in diese hatten die Russen einen brennen­den Stroh­bal­len gewor­fen, den die Solda­ten brennend wieder aus dem Fenster ins Freie warfen — konnte gelöscht werden.

Da am 11.6.1945 nicht geplün­dert wurde, ist davon auszu­ge­hen, daß es sich bei diesem dritten Überfall, der Ermor­dung von 3 Menschen und der Brand­schat­zung, um Rache­ak­te für den Tod des jungen Russen in der Nacht vom 8./9. 6. 1945 handelte.

Die Hergangs­schil­de­rung gegen­über den Ameri­ka­nern standen deutscher­seits unter der Leitung von Herrn Rotten­ba­cher vom Rathaus Essin­gen, der auch die Dolmet­scher­rol­le übernom­men hatte. Ob ein Proto­koll gefer­tigt wurde — ein deutsches oder ein ameri­ka­ni­sches — konnte bislang nicht geklärt werden. Frau Gorol erinnert sich daran, daß sie befragt wurde — jedoch erinnert sie sich nicht daran, daß jemand mitge­schrie­ben hat. Herr Worbs wurde nicht befragt. Vom Rathaus Essin­gen waren trotz zweima­li­ger schrift­li­cher Anfra­ge (28.3.1998 und 4.4.1998) leider keine Auskünf­te zu bekommen.

Das damali­ge neue Wirtschafts­ge­bäu­de wurde nie wieder aufge­baut. Frau Reiff, die den Überfall überlebt hatte, konnte den Hof auf die Dauer nicht allei­ne bewirt­schaf­ten. Sie heira­te­te R. Borst, Eigen­tü­mer der Bahnhofs­wirt­schaft in Essin­gen. Die Gastwirt­schaft »Theußen­berg« wurde länge­re Zeit nach dem Krieg von Familie Bachmann (jetzi­ge Besit­zer) in den alten Räumlich­kei­ten, die vor dem Bau der neuen Wirtschaft benutzt worden waren, wieder­eröff­net und bis 1971 betrie­ben. Viele Oberko­che­ner erinnern sich noch gerne an die gemüt­li­che alte Wirtschaft, in der als Beson­der­heit ein Ober mit schwar­zer Fliege und weißem Jacket bedien­te — ein Herr Kaps aus Essingen.

Im nun folgen­den Abschnitt berich­tet der Oberko­che­ner Adolf Dicken­herr, was er am Tag des Überfalls, dem 11. Juni 1945, erlebt hat.

Zur Überlei­tung zunächst jedoch nochein­mal Karl Reiff: Laut einer Überlie­fe­rung in Essin­gen erschien nach dem Überfall auf dem Theußen­berg ein Panzer mit drei Ameri­ka­nern und einem Deutschen, der Wegwei­ser- und mögli­cher­wei­se Dolmet­scher­diens­te leiste­te. Dieser Deutsche war, wie berich­tet wird, der Waldschütz Karl Schiehl, der den Ameri­ka­nern den Weg nach Oberko­chen zeigte. Der »Panzer« war aller­dings, wie sich Adolf Dicken­herr genau­es­tens erinner­te, ein Jeep mit exakt der oben erwähn­ten Besat­zung. Adolf Dicken­herr wörtlich: »Der Panzer war ein Jeep«.

Hier der Bericht von Adolf Dicken­herr:
Adolf Dicken­herr, JG 1933, d. h. im Sommer 1945 12 Jahre alt, sollte für den Hirsch­wirt Nagel, bei dem er damals arbei­te­te, am Nachmit­tag des 11. Juni 1945 Viehfut­ter im Wolfert­s­tal schnei­den. Er befand sich gerade auf dem Weg in der Gegend des sogenann­ten Hütten­rains (die Oberko­che­ner sprechen vom »Hütta­roi­na«, was in Wirklich­keit »Hirten­rain« bedeu­ten soll) — etwa dort, wo sich die Hans-Maier-Sprung­schan­ze befand — als er, talein­wärts gehend, vom Weg aus beobach­te­te, wie ihm über die Wiesen vom Waldrand herun­ter, vorwie­gend hinter­ein­an­der und aus Richtung Theußen­berg kommend, ca. 30 Männer entge­gen­ka­men. Vorne­weg gingen drei finste­re Gestal­ten, die furcht­erre­gen­de Schläch­ter­mes­ser in der Hand hielten. Er bekam es mit der Angst zu tun, als sie sich ihm näher­ten und war sich ziemlich sicher, daß das Russen sind. Als sie auf seiner Höhe waren, sah er, daß die Messer blutver­schmiert waren. Die Männer zogen Richtung Tierstein weiter.

Kurz nachdem er, weiter talein­wärts gehend, unbehel­ligt an ihnen vorbei­ge­kom­men war, kamen etwa auf der Höhe der Neubrun­nens, vom Waldrand herun­ter­kom­mend, weite­re 10 Russen aus Richtung Theußen­berg. Gleich­zei­tig tauch­te, auf dem Kalksträß­le im Tal mächtig Staub aufwir­belnd und ebenfalls aus Richtung Essin­gen kommend, in voller Fahrt ein ameri­ka­ni­scher Jeep auf. Ein Auto war damals eine Selten­heit — deshalb machte das auf den Jungen einen vergeß­li­chen Eindruck. Die Russen bemerk­ten den ameri­ka­ni­schen Jeep und verdrück­ten sich hastig zurück in den Wald. Der Jeep hielt wenig spater bei dem jungen Oberko­che­ner an. Adolf Dicken­herr wurde gefragt, ob er etwas beobach­tet hätte. Noch während seines Berichts spran­gen die 3 Ameri­ka­ner vom Auto herun­ter und setzten, jeder von ihnen ein Maschi­nen­ge­wehr im Anschlag, den Russen nach. Schon kurze Zeit danach knall­ten Schüs­se von oben her aus dem Wald herab und bald darauf kamen die Ameri­ka­ner, ca. 10 Russen mit erhobe­nen Händen vor sich hertrei­bend, den Hang herun­ter. Herr Dicken­herr vermerk­te ausdrück­lich, daß ihm (entge­gen anderen Berich­ten) nicht bekannt ist, daß bei dieser Schie­ße­rei ein Russe zu Tode gekom­men sei. Die Ameri­ka­ner hatten nur Warnschüs­se abgege­ben. Die Russen wurden mit erhobe­nen Händen weiter nach Oberko­chen getrie­ben — der Jeep fuhr hinter ihnen her. Der Deutsche — es muß sich um den von Karl Reiff erwähn­ten Waldschüt­zen Karl Schiehl gehan­delt haben — hatte Adolf Dicken­herr von den Mordbren­nern auf dem Theußen­berg berich­tet. Herr Dicken­herr erinner­te sich an Berich­te, denen zufol­ge die Russen in Oberko­chen auf Lastwa­gen geladen und abtrans­por­tiert worden sind.

Oberkochen

Situa­ti­ons­plan Theußen­berg 1945
nach Angaben von Karl Reiff und Else Gorol 1998

1 Alte Wirtschaft und Wohnhaus
2 Ställe und Scheu­ne
3 Backhaus
4 Neue Wirtschaft (am 11.6.45 abgebrannt)
5 Heuscheu­er und Schwei­ne­stall
6 Maschi­nen­schup­pen (am 11.6.45 abgebrannt)
7 Der von Herrn Karl Reiff genann­te Ort des Zusam­men­tref­fens der zu Hilfe kommen­den Essin­ger mit den Russen aus Oberko­chen am 8.6.45. (2. Überfall) am Waldrand.
Die Augen­zeu­gen Else Gorol und Horst Worps berich­ten überein­stim­mend, daß der schwer­ver­letz­te Russe nicht am Waldrand, sondern im Hofbe­reich vor dem neuen Wirtschafts­ge­bäu­de lag, und die Schie­ße­rei während des 2. Überfalls im Bereich des Hofs statt­ge­fun­den hat.

Oberkochen

Adolf Dicken­herr erinner­te sich auch, daß die Oberko­che­ner Gefan­ge­nen­ba­ra­cken auf dem Fritz-Leitz-Gelän­de (Lager 1), in denen Russen und andere Gefan­ge­ne unter­ge­bracht waren, »mit Sicher­heit« bereits am Tag nach dem Überfall, also am 12.6.1945, von den Ameri­ka­nern mit Benzin übergos­sen und angezün­det wurden. Durch das bekann­te Datum des 3. Überfalls auf den Theußen­berg scheint somit auch das Datum des Abbren­nens der Baracken auf dem Gelän­de des Rüstungs­be­triebs Fritz Leitz festzu­ste­hen: 12. Juni 1945.

Seit Bericht 314 vom 30.3.1998 haben sich übrigens nun doch zahlrei­che weite­re Oberko­che­ner gemel­det, die ebenfalls bestä­tig­ten, daß die Baracken des Lagers 1 bald nach dem Krieg abgebrannt worden sind, was endgül­tig belegt, daß die frühen Zeiss­ler nicht in den alten total versiff­ten Gefan­ge­nen­ba­ra­cken, sondern in neu errich­te­ten Baracken (mögli­cher­wei­se gebrauch­ten) unter­ge­bracht waren. Ohne Bestä­ti­gung sind bislang aller­dings die Aussa­gen von Adolf Dicken­herr, denen­zu­fol­ge
a) die Russen aus Lager 1 (und/oder 3) umgehend abtrans­por­tiert wurden und
b) die Baracken tatsäch­lich bereits am 12.6.1945 abgebrannt wurden.

Letzte­re Aussa­ge steht jahres­zeit­mä­ßig vor allem in Wider­spruch mit der Aussa­ge von Irmgard Post (BuG vom 30.3.1998, Bericht 314), die sich erinnert, daß »die Zwetsch­gen auf den Bäumen vor Hitze runze­lig gewor­den sind«.

Wir sind weiter­hin an Aussa­gen von Zeitzeu­gen inter­es­siert. Herr Dr. Hinkel­mann vom Optischen Museum konnte zwischen­zeit­lich das Origi­nal des in Bericht 314 veröf­fent­lich­ten Fotos aufspü­ren, auf dessen Rücksei­te handschrift­lich vermerkt ist: Septem­ber 1946 — Dr. Ing. Leist­ner. Auf dem gesam­ten Werks­ge­län­de Fritz Leitz sind auf diesem am 20.3.1998 veröf­fent­lich­ten Foto weder Baracken noch Fahrzeu­ge zu sehen — d. h., daß die Ameri­ka­ner bereits abgezo­gen sind, und daß im Herbst 1946 die alten Gefan­ge­nen­ba­ra­cken abgebro­chen, jedoch noch keine neuen Baracken für die Werks­an­ge­hö­ri­gen aus Jena aufge­stellt waren — voraus­ge­setzt, das Datum auf der Rücksei­te des Fotos stimmt.

Dietrich Bantel

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