In Bericht 316 vom 3.4.1998 berichtete Kurt Elmer davon, daß ein Teil der Russen, die, zusammen mit anderen Landsleuten, möglicherweise auch Polen, nach Kriegsende den Überfall auf den Theußenberg am Nachmittag des 11. Juni 1945 auf dem Gewissen haben, sich zu dieser »Strafaktion« vor dem Haus Elmer im Kapellenweg zusammenrottete. Einige von ihnen kamen belegbar aus Lager 6 im Kapellenweg, andere aus den Lagern 1 und 3 auf dem Werksgelände der Firma Fritz Leitz und aus anderen Lagern außerhalb Oberkochens.
Durch intensive Nachforschungen ist es nun möglich, ein halbwegs klares Bild von diesem furchtbaren Nachkriegsblutbad zu zeichnen, von dem auch in Oberkochen bis auf den heutigen Tag gesprochen wird. Meine Informanten sind:
♦ Karl Reiff, Essingen, 80 Jahre alt, Sohn des damals ermordeten Pächters und dessen Ehefrau Wilhelmine Reiff, Essingen.
♦ Eine weitere wichtige Zeitzeugin ist Else Gorol geb. Frank, 70 Jahre alt, die die 3 Überfälle vor 53 Jahren als 17-jähriges Mädchen miterlebte sowie
♦ Horst Worbs, Essingen, 73 Jahre alt, der den letzten Überfall am 11.6.1945 wie durch ein Wunder überlebte.
♦ Ferner berufe ich mich auf einen kurzen Artikel in der Schwäbischen Post vom 11. Juni 1965, der anläßlich der 20. Jährung des Überfalls unter dem Titel »Die Mordbrenner auf dem Theußenberg« erschienen ist (wird, wo notwendig, zitiert),
♦ und einen Bericht von Adolf Dickenherr, Oberkochen, der am 11.6.1945 im Wolfertstal als 12-jähriger Junge Zeuge der Rückkehr eines Teils der Mördertruppe geworden ist. Sein mündlicher Bericht stammt vom 26. März 1998. Herr Dickenherr hat die Richtigkeit meiner schriftlichen Niederlegung wenige Tage vor seiner schlimmen Erkrankung, die zu seinem frühen Tod führte, bestätigt. Der Heimatverein trauert um ein treues und interessiertes Mitglied.
♦ Ferner beziehe ich mich auf Aussagen von Kurt Elmer und Bernhardine Riedmüller, beide Oberkochen. Die beiden noch lebenden Augenzeugen, Else Gorol und Horst Worbs, bestätigten die Richtigkeit meiner nun, nach über einem halben Jahrhundert vorliegenden ersten ausführlichen schriftlichen Beschreibung der Überfälle auf den Theußenberg, was vor allem im Hinblick auf die Richtigstellung von falschen Überlieferungen, die Oberkochen betreffen, von Bedeutung ist. Dafür herzlichen Dank. Herr Reiff, Sohn des ermordeten Pächters, sind wir für seinen schriftlichen Bericht dankbar und außerdem für die Beschaffung von fotografischem Material bei der Familie Bachmann (jetzige Besitzer vom Theußenberg).
Zunächst sind einige schiefe Überlieferungen zurechtzurücken.
Erstens sind nach Aussage und Erinnerung von allen Befragten entgegen anderen Überlieferungen während dem Krieg auf dem Theußenberg keine Zwangsarbeiter aus Oberkochen beschäftigt gewesen, so daß es sich bei dem Überfall auch nicht um einen Racheakt für angeblich schlechte Behandlung der Zwangsarbeiter während ihrer Arbeitszeit auf dem Theußenberg gehandelt haben kann.
Zweitens hat nicht nur ein Überfall auf den Theußenberg stattgefunden, sondern es waren insgesamt drei innerhalb von 5 Tagen zwischen der Nacht vom 6./7. Juni und dem Nachmittag des 11. Juni 1945.
Drittens sind bei dem Überfall nicht 2, sondern 3 Menschen ermordet worden. Zusammen mit einem Russen sind 4 Menschen umgekommen. Es gab überdies eine Reihe von Verletzten.
Viertens wurde nicht nur das neue Wirtschaftsgebäude 4 in Brand gesteckt, sondern alle 3 Gebäude des Anwesens, also auch die Gebäude 1/2 und 5/6, wobei die Brände im Wohngebäude 1 gelöscht werden konnten, das Wirtschaftsgebäude 4, der Heustadel 5 und der Maschinenschuppen 6 jedoch völlig niederbrannten. Außerdem wurden zahlreiche Schweine ein Opfer der Flammen.
Fünftens waren zumindest am 3. Überfall nicht nur Oberkochener Zwangsarbeiter aus Rußland und Polen beteiligt, sondern auch solche aus anderen Orten. Genannt wurde Wasseralfingen.
Sechstens kam entgegen anderen Überlieferungen kein Russe oder Pole um, als die Amerikaner im Wolfertstal einen Teil der Mörder stellten. Dagegen kam beim 2. Überfall auf den Theußenberg ein junger russischer Zwangsarbeiter aus Oberkochen ums Leben.
Siebtens kann durch übereinstimmende Aussage aller Befragten eindeutig nachgewiesen werden, daß sich, entgegen Gerüchten, die in Oberkochen bis auf den heutigen Tag kursieren, zu keinem Zeitpunkt Oberkochener deutsche Soldaten auf dem Theußenberg aufgehalten haben und somit auch keine Oberkochener Soldaten in Schießereien und andere Kampfhandlungen, insbesondere den ominösen Rückwurf einer Handgranate, verwickelt gewesen sind.
Zur Geschichte der Überfälle
Nach ähnlichen aber unblutigen Überfällen auf die einsamen Essinger Hofgüter Tauchenweiler (Pfingsten 1945) und Prinzeck, war vom 6. ‑11. Juni 1945 der Theußenberg Ziel von Plünderungen. Über das Kriegsende hatte eine Stuttgarter Firma Textilien auf dem Theußenberg eingelagert. Dies ist, so wird gesagt, den Oberkochener Zwangsarbeitern über eine auf dem Theußenberg beschäftigte russische oder polnische Magd bekannt geworden, was wohl mit ein Grund für den Überfall war. Allerdings mußte der Theußenberg nach den Überfällen auf die beiden anderen einsam gelegenen Höfe auch ohne diesen Grund mit einem überfall rechnen. Aus Sicherheitsgründen verbrachten deshalb die Frauen teilweise schon vor den Überfällen die Nächte im Dorf. Die Männer hielten während der Nacht nach Möglichkeit Wache.
Der erste Überfall
Kurz vor Mitternacht in der Nacht vom 6./7. Juni 1945 — Frau Reiff war soeben im Begriff, zu Bett zu gehen — war plötzlich Lärm ums Haus. Entgegen der Schilderung in der Schwäbischen Post vom 11.6.1965 betont Herr Karl Reiff, daß in dieser Nacht nicht geschossen wurde. Um Schlimmeres zu verhüten, wurde den ungebetenen Gästen die Tür geöffnet. Der Überfall lief nach dem Muster der Überfälle auf den Tauchenweiler und das Hofgut Prinzeck ab: Die Bewohner wurden in einen Raum zusammengetrieben und dort eingesperrt. Mit einem vollbeladenen Wagen verließen die Plünderer (im Pressebericht SP v. 11.6.1968 ist vermerkt: »Polen und Russen, die aus einem Lager aus Oberkochen gekommen waren«) den Hof.
Ab der folgenden Nacht übernahmen die Männer, verstärkt durch Männer aus dem Dorf, die Nachtwache mit einem Wachposten, der außerhalb des Hofs am Fußweg nach Essingen postiert war, war vereinbart worden, daß bei drohender Gefahr in einem bestimmten Raum das Licht eingeschaltet würde. In der nächsten Nacht blieb es aber ruhig.
Der zweite Überfall
In der Nacht vom 8./9. Juni erfolgte dann jedoch der zweite Überfall. Auf das ausgemachte Lichtzeichen hin eilte die Wache ins Dorf, um weitere Hilfe herbeizuholen. Zuerst, so berichtet Herr Reiff, wurde versucht, die Amerikaner zu Hilfe zu bewegen. Der amerikanische Offizier erklärte jedoch, bei Nacht dürfe er mit seinen Soldaten nicht auf den Theußenberg hinauf, worauf der couragierte junge Mann einige Essinger Bürger, die sich zur Hilfe bereit erklärten, zusammenbrachte. Die Helfer trafen jedoch nach der Schilderung von Karl Reiff, durchs Daumental kommend, erst auf dem Theußenberg ein, als die Horde mit einem Beutefahrzeug bereits auf dem Rückzug war und den Wald (wohl bei 7) erreicht hatte. Dieser Darstellung widerspricht die Augenzeugin Else Gorol. Sie, sowie der Augenzeuge Horst Worbs bezeugen, daß die Deutschen und die Russen noch auf dem Gelände um den Hof herum aufeinandergetroffen sind. Beim Zusammentreffen kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf es auch zu einer vermutlich wechselseitigen Schießerei kam und eine Handgranate geworfen worden sein soll. Waffen sind, lt. Frau Gorol, überall auf dem Hof versteckt gewesen, so daß bei dem zweiten Überfall auch die Deutschen Schußwaffen gehabt haben können.
Mindestens ein Plünderer blieb schwer verwundet im Hof vor dem neuen Wirtschaftsgebäude liegen. Er starb bis zum nächsten Morgen. Von ihm war, lt. Pressebericht, noch in Erfahrung gebracht worden, daß wenigstens 30 Mann an dem 2. Überfall beteiligt gewesen waren. Ob es noch mehr Verwundete gab, ist nicht bekannt. Die Plünderer zogen sich diesmal unter Zurücklassung der Beute zurück. Dieser Teil der Beschreibung stammt von dem mit den Eltern von Herrn Reiff befreundeten deutschen Offizier Helmut Rusch und ist laut Karl Reiff nicht anzuzweifeln.
Sowohl in Essingen als auch in Oberkochen wird im Zusammenhang mit der von den Russen geworfenen Handgrante berichtet, daß sie von einem Deutschen — Herr Worbs erinnert sich, daß es mit großer Sicherheit der erst vor wenigen Jahren verstorbene deutsche Offizier Helmut Rusch gewesen war — noch vor der Zündung auf die Russen zurückgeworfen wurde, wo sie explodierte und wobei der junge Russe, der später verstarb, lebensgefährlich verletzt worden sein soll. Dem letzten Teil dieser Überlieferung ist sicherlich mit Vorsicht zu begegnen, da er verherrlichenden Heldentaten-Stories, die auch anderswo erzählt werden, gleicht.
Die Aussage von Bernhardine Riedmüller belegt dagegen, daß der getötete, gerade 20 Jahre alte Russe mit Sicherheit aus Oberkochen gekommen war, und zwar aus einer der Baracken des Fritz-Leitz-Werksgeländes (Lager 1 oder Lager 3). Der Trauerzug der Russen anläßlich der Beisetzung zog am Haus Brunnhuber vorüber, wobei nach Aussage von Bernhardine Riedmüller und Adolf Bäuerle der Sarg offen durch den Ort getragen wurde. Zwei evakuierte Mädchen, die gegen Kriegsende im Haus Brunnhuber logierten, schauten unterdessen aus dem Fenster heraus und riefen den vorüberziehenden Russen in jugendlichem Übermut zu. »Heute nix Theußenberg«. Die dadurch gereizten Russen tauchten nach der Beerdigung im Haus Brunnhuber auf und wollten wissen, wer das gerufen habe. Da sie keine Auskunft erhielten, kündigten sie an, daß sie in der kommenden Nacht Rabaz machen würden. Die Bewohner des Hauses hatten die ganze Nacht schreckliche Angst, aber es ist nichts passiert.
Durch die Klärung der näheren Umstände im Zusammenhang mit den Überfällen auf den Theußenberg kann nun ein Grab auf dem evangelischen Friedhof Oberkochen dem bei dem Überfall auf dem Theußenberg umgekommenen jungen Russen zugeordnet werden. Der Grabstein befindet sich bei dem der 5 Opfer des Fliegerangriffs auf den Häftlingstransport vom April 1945. Die Grabsteininschrift lautet:
Wladimir Kolotschenko
22. 2. 1925
11. 6. 1945
Ein Widerspruch besteht datumsmäßig: Wahrscheinlich wurde irrtümlich das Datum des großen Überfalls in den Stein geschrieben. Richtig müßte das Sterbedatum wohl nicht 11.6.1945, sondern 8.6.1945 lauten.
Zurück zum Theußenberg
Durch Angaben des Schwerverletzten und später verstorbenen Russen und entsprechende, in diesem Zusammenhang erfolgte Maßnahmen und Zusicherungen der Amerikaner konnte man sich auf dem Theußenberg nun angeblich in Sicherheit fühlen …
Während der beiden folgenden Nächte geschah tatsächlich nichts.
Der dritte Überfall — Montag, 11. Juni 1945
Am dunstig-nebeligen Vormittag dieses Montags ging man der Arbeit auf dem Feld nach. Der von den Amerikanern eingesetzte geschäftsführende Essinger Bürgermeister Rottenbacher hatte nach dem 2. Überfall drei sich noch in Essingen aufhaltende deutsche Soldaten zur Verstärkung auf den Theußenberg geschickt, die in der Landwirtschaft mithalfen. Offenbar ahnte man nichts Gutes.
An diesem Tag befanden sich meinen Nachforschungen zufolge insgesamt mindestens 16 Personen auf dem Theußenberg:
♦ Der Pächter des Hofs, Christian Reiff, 52 Jahre alt, aus Essingen und dessen Frau
♦ Der Schwager des Tübinger Hofbesitzers Professor Stadelmann, Professor Walter Nestle, ca. 45 Jahre alt, aus Ellwangen mit Frau und 2 Kindern
♦ Ein Essinger Bürger namens Friedrich Wirth, 39 Jahre alt
♦ Ein 17-jähriges Mädchen aus Essingen (Else Frank, verh. Gorol)
♦ Eine evakuierte Frau und ein evakuierter Junge aus Zuffenhausen
♦ Ein Dienstmädchen
♦ Ein Offizier der deutschen Wehrmacht namens Helmut Rusch — ein mit dem Pächterehepaar befreundeter Soldat, der die Rückkehr in seinen französisch besetzten Heimatort Großsachsenheim noch aufschob.
♦ Ferner waren während des 3. Überfalls zur prophylaktischen Verstärkung vom geschäftsführenden Essinger Bürgermeister Rottenbacher 2 weitere deutsche Soldaten aus Essingen, Kurt Hoffmann und Horst Worbs, auf den Theußenberg beordert worden.
♦ Sowie ein weiterer in Essingen hängengebliebener Soldat namens Eugen Jäger aus Ibdingen bei Vaihingen/Enz
♦ Die russische (wahrscheinlich eher polnische) Magd Maria wurde während des 3. und entscheidenden Überfalls am 11. 6. nicht gesichtet. Die Frage, ob sie vorgewarnt war, bleibt offen.
Man war eben beim Mittagessen. Da brachen die Russen und Polen am hellichten Tag urplötzlich von allen Seiten aus dem Wald heraus und stürmten in riesiger Zahl (Frau Gorol: »Es war, wie wenn d’ Maikäfer aus’m Feld kommat«) mit fürchterlichem Geschrei und wild um sich schießend von allen Seiten auf das Anwesen zu; das Anwesen war regelrecht umzingelt worden. Viele waren mit grausigen Waffen, einige mit langen Schlächtermessern, andere mit landwirtschaftlichen Geräten, bewaffnet. Laut SP-Bericht vom 11. 6. 1965 und übereinstimmenden Berichten der beiden noch lebenden Zeitzeugen Gorol und Worbs waren es über 100 an der Zahl. Mit Sicherheit sind sie nicht alle von Oberkochen gekommen — auch Wasseralfingen wird genannt. An ein Entrinnen war genauso wenig zu denken, wie an eine echte Gegenwehr. Es gab zwar, obwohl verboten, versteckte Waffen auf dem Theußenberg, aber die waren, bis man sich’s recht versehen hatte, nicht mehr erreichbar. Diesmal machten die Räuber kurzen Prozeß: Drei männliche Bewohner des Theußenbergs wurden nicht erst in einen Raum gesperrt, sondern gleich auf grausame Weise umgebracht: Der Pächter Christian Reiff und Friedrich Wirth, der an diesem Tag zur Feldarbeit von Essingen auf den Theußenberg heraufgekommen war, wurden durch zahllose Messerstiche bestialisch ermordet. Auch der Schwager des Besitzers, Professor Walter Nestle, wurde auf grausame Weise umgebracht. Der deutsche Offizier Helmut Rusch, der wieder als Alarmposten fungiert hatte, war dem Pressebericht zufolge mit dem Leben davongekommen, weil er von den Mördern vermutlich für tot gehalten und in den Keller geworfen worden war. Die drei Soldaten überlebten wie durch ein Wunder — sie hatten sich zuletzt mit Biergläsern aus der alten Wirtschaft verteidigt und in einem günstigen Augenblick versteckt. Horst Worbs sagte, daß sie, wären die Russen und Polen nicht überraschend früh abgezogen, keinerlei Chance zum Überleben gehabt hätten. Auch Else Gorol bestätigte, daß der Überfall sich in kürzester Zeit abspielte — »Das ging Ruckzuck«. Auch die Frauen wurden durch Gewehrkolbenschläge (Frau Gorol erhielt einen Kolbenschlag ins Genick und litt lange Zeit an schlimmen Kopfschmerzen) und durch Messerstiche verletzt. (Frau Nestle erlitt einen Nierenstich.) Sie wurden mit den Kindern schließlich ins Backhaus (3) eingesperrt. Der evakuierte Junge war an der Leiter ins Heu entkommen und anschließend unbemerkt ins Freie gelangt. Er soll, sowie die später freigekommene Frau des ermordeten Christian Reiff, im Dorf Alarm geschlagen haben.
Ehe sich die Plünderer und Mörder zurückzogen, steckten sie alle 3 Gebäude des Anwesens Theußenberg, 2 Doppelgebäude (1÷2, 5/6) und das Wirtschaftsgebäude (4) in Brand. Der Frau des ermordeten Pächters, also der Mutter des Informanten Karl Reiff, war es nach Abzug der Banditen gelungen, sich aus dem Backhaus zu befreien und Hilfe aus Essingen zu holen, die allerdings viel zu spät kam. Das Wirtschaftsgebäude mit seinen gemütlichen Gasträumen, das erst wenige Jahre vor Kriegsausbruch errichtet worden war, und in welchem sich im 1. Stock auch eine Wohnung des Ehepaars Karl und Wilhelmine Reiff befunden hatte, brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Ein Teil des Viehs, vor allem Schweine, fielen den Flammen zum Opfer.
Das Feuer im Wohngebäude und der alten Wirtschaft — in diese hatten die Russen einen brennenden Strohballen geworfen, den die Soldaten brennend wieder aus dem Fenster ins Freie warfen — konnte gelöscht werden.
Da am 11.6.1945 nicht geplündert wurde, ist davon auszugehen, daß es sich bei diesem dritten Überfall, der Ermordung von 3 Menschen und der Brandschatzung, um Racheakte für den Tod des jungen Russen in der Nacht vom 8./9. 6. 1945 handelte.
Die Hergangsschilderung gegenüber den Amerikanern standen deutscherseits unter der Leitung von Herrn Rottenbacher vom Rathaus Essingen, der auch die Dolmetscherrolle übernommen hatte. Ob ein Protokoll gefertigt wurde — ein deutsches oder ein amerikanisches — konnte bislang nicht geklärt werden. Frau Gorol erinnert sich daran, daß sie befragt wurde — jedoch erinnert sie sich nicht daran, daß jemand mitgeschrieben hat. Herr Worbs wurde nicht befragt. Vom Rathaus Essingen waren trotz zweimaliger schriftlicher Anfrage (28.3.1998 und 4.4.1998) leider keine Auskünfte zu bekommen.
Das damalige neue Wirtschaftsgebäude wurde nie wieder aufgebaut. Frau Reiff, die den Überfall überlebt hatte, konnte den Hof auf die Dauer nicht alleine bewirtschaften. Sie heiratete R. Borst, Eigentümer der Bahnhofswirtschaft in Essingen. Die Gastwirtschaft »Theußenberg« wurde längere Zeit nach dem Krieg von Familie Bachmann (jetzige Besitzer) in den alten Räumlichkeiten, die vor dem Bau der neuen Wirtschaft benutzt worden waren, wiedereröffnet und bis 1971 betrieben. Viele Oberkochener erinnern sich noch gerne an die gemütliche alte Wirtschaft, in der als Besonderheit ein Ober mit schwarzer Fliege und weißem Jacket bediente — ein Herr Kaps aus Essingen.
Im nun folgenden Abschnitt berichtet der Oberkochener Adolf Dickenherr, was er am Tag des Überfalls, dem 11. Juni 1945, erlebt hat.
Zur Überleitung zunächst jedoch nocheinmal Karl Reiff: Laut einer Überlieferung in Essingen erschien nach dem Überfall auf dem Theußenberg ein Panzer mit drei Amerikanern und einem Deutschen, der Wegweiser- und möglicherweise Dolmetscherdienste leistete. Dieser Deutsche war, wie berichtet wird, der Waldschütz Karl Schiehl, der den Amerikanern den Weg nach Oberkochen zeigte. Der »Panzer« war allerdings, wie sich Adolf Dickenherr genauestens erinnerte, ein Jeep mit exakt der oben erwähnten Besatzung. Adolf Dickenherr wörtlich: »Der Panzer war ein Jeep«.
Hier der Bericht von Adolf Dickenherr:
Adolf Dickenherr, JG 1933, d. h. im Sommer 1945 12 Jahre alt, sollte für den Hirschwirt Nagel, bei dem er damals arbeitete, am Nachmittag des 11. Juni 1945 Viehfutter im Wolfertstal schneiden. Er befand sich gerade auf dem Weg in der Gegend des sogenannten Hüttenrains (die Oberkochener sprechen vom »Hüttaroina«, was in Wirklichkeit »Hirtenrain« bedeuten soll) — etwa dort, wo sich die Hans-Maier-Sprungschanze befand — als er, taleinwärts gehend, vom Weg aus beobachtete, wie ihm über die Wiesen vom Waldrand herunter, vorwiegend hintereinander und aus Richtung Theußenberg kommend, ca. 30 Männer entgegenkamen. Vorneweg gingen drei finstere Gestalten, die furchterregende Schlächtermesser in der Hand hielten. Er bekam es mit der Angst zu tun, als sie sich ihm näherten und war sich ziemlich sicher, daß das Russen sind. Als sie auf seiner Höhe waren, sah er, daß die Messer blutverschmiert waren. Die Männer zogen Richtung Tierstein weiter.
Kurz nachdem er, weiter taleinwärts gehend, unbehelligt an ihnen vorbeigekommen war, kamen etwa auf der Höhe der Neubrunnens, vom Waldrand herunterkommend, weitere 10 Russen aus Richtung Theußenberg. Gleichzeitig tauchte, auf dem Kalksträßle im Tal mächtig Staub aufwirbelnd und ebenfalls aus Richtung Essingen kommend, in voller Fahrt ein amerikanischer Jeep auf. Ein Auto war damals eine Seltenheit — deshalb machte das auf den Jungen einen vergeßlichen Eindruck. Die Russen bemerkten den amerikanischen Jeep und verdrückten sich hastig zurück in den Wald. Der Jeep hielt wenig spater bei dem jungen Oberkochener an. Adolf Dickenherr wurde gefragt, ob er etwas beobachtet hätte. Noch während seines Berichts sprangen die 3 Amerikaner vom Auto herunter und setzten, jeder von ihnen ein Maschinengewehr im Anschlag, den Russen nach. Schon kurze Zeit danach knallten Schüsse von oben her aus dem Wald herab und bald darauf kamen die Amerikaner, ca. 10 Russen mit erhobenen Händen vor sich hertreibend, den Hang herunter. Herr Dickenherr vermerkte ausdrücklich, daß ihm (entgegen anderen Berichten) nicht bekannt ist, daß bei dieser Schießerei ein Russe zu Tode gekommen sei. Die Amerikaner hatten nur Warnschüsse abgegeben. Die Russen wurden mit erhobenen Händen weiter nach Oberkochen getrieben — der Jeep fuhr hinter ihnen her. Der Deutsche — es muß sich um den von Karl Reiff erwähnten Waldschützen Karl Schiehl gehandelt haben — hatte Adolf Dickenherr von den Mordbrennern auf dem Theußenberg berichtet. Herr Dickenherr erinnerte sich an Berichte, denen zufolge die Russen in Oberkochen auf Lastwagen geladen und abtransportiert worden sind.

Situationsplan Theußenberg 1945
nach Angaben von Karl Reiff und Else Gorol 1998
1 Alte Wirtschaft und Wohnhaus
2 Ställe und Scheune
3 Backhaus
4 Neue Wirtschaft (am 11.6.45 abgebrannt)
5 Heuscheuer und Schweinestall
6 Maschinenschuppen (am 11.6.45 abgebrannt)
7 Der von Herrn Karl Reiff genannte Ort des Zusammentreffens der zu Hilfe kommenden Essinger mit den Russen aus Oberkochen am 8.6.45. (2. Überfall) am Waldrand.
Die Augenzeugen Else Gorol und Horst Worps berichten übereinstimmend, daß der schwerverletzte Russe nicht am Waldrand, sondern im Hofbereich vor dem neuen Wirtschaftsgebäude lag, und die Schießerei während des 2. Überfalls im Bereich des Hofs stattgefunden hat.

Adolf Dickenherr erinnerte sich auch, daß die Oberkochener Gefangenenbaracken auf dem Fritz-Leitz-Gelände (Lager 1), in denen Russen und andere Gefangene untergebracht waren, »mit Sicherheit« bereits am Tag nach dem Überfall, also am 12.6.1945, von den Amerikanern mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Durch das bekannte Datum des 3. Überfalls auf den Theußenberg scheint somit auch das Datum des Abbrennens der Baracken auf dem Gelände des Rüstungsbetriebs Fritz Leitz festzustehen: 12. Juni 1945.
Seit Bericht 314 vom 30.3.1998 haben sich übrigens nun doch zahlreiche weitere Oberkochener gemeldet, die ebenfalls bestätigten, daß die Baracken des Lagers 1 bald nach dem Krieg abgebrannt worden sind, was endgültig belegt, daß die frühen Zeissler nicht in den alten total versifften Gefangenenbaracken, sondern in neu errichteten Baracken (möglicherweise gebrauchten) untergebracht waren. Ohne Bestätigung sind bislang allerdings die Aussagen von Adolf Dickenherr, denenzufolge
a) die Russen aus Lager 1 (und/oder 3) umgehend abtransportiert wurden und
b) die Baracken tatsächlich bereits am 12.6.1945 abgebrannt wurden.
Letztere Aussage steht jahreszeitmäßig vor allem in Widerspruch mit der Aussage von Irmgard Post (BuG vom 30.3.1998, Bericht 314), die sich erinnert, daß »die Zwetschgen auf den Bäumen vor Hitze runzelig geworden sind«.
Wir sind weiterhin an Aussagen von Zeitzeugen interessiert. Herr Dr. Hinkelmann vom Optischen Museum konnte zwischenzeitlich das Original des in Bericht 314 veröffentlichten Fotos aufspüren, auf dessen Rückseite handschriftlich vermerkt ist: September 1946 — Dr. Ing. Leistner. Auf dem gesamten Werksgelände Fritz Leitz sind auf diesem am 20.3.1998 veröffentlichten Foto weder Baracken noch Fahrzeuge zu sehen — d. h., daß die Amerikaner bereits abgezogen sind, und daß im Herbst 1946 die alten Gefangenenbaracken abgebrochen, jedoch noch keine neuen Baracken für die Werksangehörigen aus Jena aufgestellt waren — vorausgesetzt, das Datum auf der Rückseite des Fotos stimmt.
Dietrich Bantel