In unserer alten Heimat — es war der 11. Febru­ar 1945 — verlie­ßen die deutschen Truppen Bielitz. Die Kreis­stadt Bielitz-Biala wurde am 12. Febru­ar 1945 von der Roten Armee kampf­los einge­nom­men. Wir erinnern uns: Der in Bericht 279 abgedruck­te Marsch­be­fehl nach Oberko­chen für Frau Wallosch­ke (verh. Reber), der gleich­zei­tig als Passier­schein galt, war am 10. Febru­ar 1945 ausge­stellt worden und Frau Wallosch­ke traf am 14. Febru­ar in Oberko­chen ein.

Die polni­sche Miliz und die Rotar­mis­ten drangen in die Häuser ein. Sie beschimpf­ten unsere dort zurück­ge­blie­be­nen Lands­leu­te: es waren Frauen, Kinder und kranke Männer. Sie schlu­gen auf die Frauen ein, die Zimmer wurden ausge­plün­dert und ausge­raubt. Kinder wurden den Müttern aus den Händen geris­sen, Mädchen und Frauen verge­wal­tigt. Diese bruta­len Menschen standen meist unter Alkohol­ein­fluß. Mütter, die sich vor die Kinder zur Wehr stell­ten, wurden mit Kolben­schlä­gen zusam­men­ge­schla­gen. Diese bestia­li­schen Grausam­kei­ten wieder­hol­ten sich mehrmals täglich; auch nachts gab es keine Ruhe. Der Krieg war auf diese Weise noch lange nicht zu Ende. Die durch­lau­fen­den Solda­ten der neuen Macht­ha­ber hatten Narren­frei­heit. Ein jeder durfte tun und lassen, was ihm gerade beliebte.

Bald wurden Frauen und Mädchen, die in den Wohnun­gen zurück­ge­blie­ben waren, auf die Straße hinaus­ge­trie­ben und in Schulen, Auffang­la­gern und in die Gefäng­nis­se gejagt.

Es wurden Trans­por­te zusam­men­ge­stellt. Die Menschen wurden nach einigen Tagen in offenen Militär­last­wa­gen und Viehtrans­port­wag­gons ohne warme Beklei­dung — es gab weder Mäntel noch Decken — aus Bielitz wegge­bracht. Febru­ar, eiskal­ter Winter — und keiner wußte, wohin es geht.

Nach wochen­lan­ger Fahrt wurden die Zivil­ver­schlepp­ten nach Zaporosche/Kaukasus gebracht, von wo aus die armen Menschen zu Fuß in die Arbeits­la­ger »Alagier und Nusal« getrie­ben wurden.

Bald brachen mehre­re Epide­mien wie Typhus, Ruhr u. a. Krank­hei­ten aus. Viele Frauen und Mädchen starben damals. Wer die Seuchen überleb­te, wurde anfangs Juli 1945 zur Arbeit einge­setzt. In den Berghö­hen von 2500 Meter wurden Baracken errich­tet, die für die neuhin­zu­kom­men­den deutschen Kriegs­ge­fan­ge­nen vorge­se­hen waren. Wo keine Zufahrt möglich war, mußten die Frauen und Mädchen mit bloßen Händen das Bauma­te­ri­al wie Steine, Sand, Balken auf dem Rücken aus den Tälern hinauf­tra­gen. Hunder­te von Frauen und Mädchen arbei­te­ten auf einer großen Kolcho­se. Die Arbeit begann bei Sonnen­auf­gang und endete bei Sonnen­un­ter­gang. Das Essen war schlecht.

In dieser Gegend war die Malaria­mü­cke verbrei­tet. Wer an einer dieser Seuchen, Malaria, Ruhr, Typhus oder sonst schwer erkrank­te, mußte in das einige Stunden vom Arbeits­platz entfern­te Kranken­haus gebracht werden. Im Oktober war es schon wieder recht kalt. Man stell­te den Schwer­kran­ken für den Trans­port keine Decken etc. zur Verfü­gung. Unsag­bar groß war die seeli­sche und körper­li­che Not all dieser Gefangenen.

Diese Schick­sals­er­leb­nis­se schil­der­te mir meine Schwes­ter, die heute in Königs­bronn wohnt. Sie wurde seiner­zeit mit noch keinen 17 Jahren aus dem Eltern­haus in Altbie­litz heraus­ge­jagt und mußte die vielen Strapa­zen am eigenen Leibe miter­le­ben. Sie kam nach 4 Jahren Verschlep­pung krank als Zivil­per­son zurück. Eine weitläu­fi­ge Verwand­te wurde zusam­men mit Frauen und Mädchen aus Bielitz verschleppt. Sie kam bis nach Novo-Sibirsk und nach einer 5 1/2jährigen Gefan­gen­schaft krank über mehre­re Etappen nach Oberko­chen zu ihren Verwandten.

In der alten Heimat wurden, nachdem der Krieg zu Ende war, im Sommer 1945 von den Polen die erste Zwangs­aus­sied­lun­gen nach Deutsch­land vorge­nom­men. In Sammel­trans­por­ten (Güter­wag­gons) brach­te man die Heimat­lo­sen nach Mecklen­burg in die sowje­ti­sche Besat­zungs­zo­ne. Sehr viele starben auf dem Weg nach Grabow und Ludwigs­lust. Weite­re Trans­por­te gingen 1946 nach Nieder­sach­sen, Westfa­len und Bayern. In Luftschutz­bun­kern, Baracken und Notquar­tie­ren fanden sie die ersten Unterkünfte.

Oberkochen

Große Lands­mann­schaf­ten wurden ins Leben gerufen. Es wurde eine Monats­zeit­schrift »Bielitz-Bialaer Beski­den­brie­fe« für diese Heimat­ver­trie­be­nen heraus­ge­ge­ben. In verschie­de­nen Orten gelang­te man zur Einsicht, daß der überwie­gen­den Mehrheit unserer Lands­leu­te die Pflege des Heimat­ge­dan­kens, des überlie­fer­ten Kultur­guts und des persön­li­chen Kontakts ein aufrich­ti­ges Herzens­be­dürf­nis sei.

So bilde­te sich eine Heimat­grup­pe Bielitz-Biala e. V. mit Zweig­grup­pen im ganzen Bundes­ge­biet. Die Paten­stadt wurde Lippstadt/Westfalen.

Zum Geden­ken an den schwe­ren Verlust der Heimat vor 10 Jahren veran­stal­te­ten die hiesi­gen Bielit­zer am 2. April 1955 einen Famili­en­abend, an dem 100 Perso­nen anwesend waren. Es nahmen u. a. auch Heimat­freun­de aus Ulm, München und Stutt­gart daran teil. Wir waren eine lose Heimat- und Schicksalsgemeinschaft.

Eröff­net wurde das Festpro­gramm durch einen Musik­vor­trag des Kammer­tri­os »Neuber« im Gasthaus »Hirsch«. Die Begrü­ßungs­an­spra­che hielt Heimat­freund Johann Urban­ke, die Festan­spra­che hielt Ing. Pudelek aus München, der u. a. die besten Grüße der Münch­ner Zweig­grup­pe überbrach­te. Auch Herr Bürger­meis­ter Bosch war anwesend und überbrach­te die herzli­chen Grüße und guten Wünsche der Gemein­de. Die besinn­li­che Feier­stun­de wurde durch ein reich­hal­ti­ges Festpro­gramm von Musik‑, Gesang- und Gedicht­vor­trä­gen umrahmt.

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Am 9.4.1967 entstand unter dem Heimat­freund Johann Urban­ke eine eigene Zweig­grup­pe der Bielit­zer in Oberko­chen. 1972 übernahm Hugo Englert sen. das Amt des Vorsit­zen­den, gefolgt von Heimat­freund Dipl.-Ing. Herbert Kupke aus Aalen. Infol­ge des Todes der beiden Vorstän­de führt für das weite­re Bestehen der Oberko­che­ner Zweig­grup­pe Heimat­freund Robert Wallosch­ke, einst auch Bürger von Oberko­chen, jetzt wohnhaft in Weißenburg/Bayern, die Geschäfte.

Oberkochen

Im Laufe der Zeit ist die Heimat­grup­pe alters­be­dingt und durch die Todes­fäl­le zusam­men­ge­schrumpft, so daß wir uns nur 2- bis 3mal jährlich im Gasthof »Grube« treffen. Wir feiern in der Advents­zeit nach wie vor das tradi­tio­nel­le Vorweih­nachts­fest, bei dem 20 Perso­nen anwesend sind.

Ich möchte nun einige Namen von Perso­nen nennen, die seiner­zeit allei­ne oder im Rahmen der Famili­en­zu­sam­men­füh­rung hierher nach Oberko­chen kamen und größten­teils in unserem Städt­chen oder dessen Umkreis die zweite Heimat gefun­den haben. Es waren bis 1946, vor nunmehr 50 Jahren, die Famili­en Urban­ke, Bathelt, Mickler, Michalik, Stana, Wallosch­ke, Dubiel, Scharek, Piesch, Böhn, Englert, Homa, Janot­ta, Schwarz, Zipser, Hess, Staschek, Steckel, Wenzel, Jakobschy, Schymik, Zender, Bartel­muss, Lehrer, Gürtler, Kaiser, Biesok, Kwasny, Buchmann, Woldschlä­ger, Niesyt, Jenker, Janot­ta u. a.

Wir Bielit­zer Heimat­ver­trie­be­nen haben uns inzwi­schen gut in der neuen Heimat einge­lebt, haben Arbeit gefun­den und so manch einer hat sich eine Existenz aufge­baut. Durch eigene Initia­ti­ve und Sparsam­keit konnte im Laufe der Jahre mancher auch ein Häuschen erwer­ben. Es ist schön hier, aber die alte Heimat bleibt unver­ges­sen. Wer will es einem verdenken!

Für alle, die selbst Bielitz nie gesehen haben — und das sind insbe­son­de­re die jünge­ren unter unseren vielen Freun­den — ist dieser knappe Rückblick gedacht. In Bielitz-Biala und im schönen Beski­den­land sind die Zeichen deutscher Leistung und Geschich­te bis auf den heuti­gen Tag unverkennbar.

Es gilt auch heute noch, Verständ­nis zu wecken für das Schick­sal der Menschen, die diese Heimat einst beses­sen haben und dann unter abscheu­li­chen Umstän­den verlas­sen mußten. — Ich habe meinen Vater und Onkel in der Heimat, im Arbeits­la­ger und den Gefäng­nis­sen von Myslo­witz, Jaworzno/Oberschlesien auf bestia­li­sche Art verloren.

In der Stadt Pocking/Niederbayern, nur 5 km vom bekann­ten Kurort Bad Füssing, steht neben der Stadt­kir­che ein großes Krieger­denk­mal beider Weltkrie­ge; daneben ein Gedenk­stein mit der Inschrift: »Deutsche gedenkt der durch Potsdam und Yalta geraub­ten Heimat­ge­bie­te. Wir geden­ken in Ehrfurcht der Opfer, die bei der Austrei­bung für uns starben.«

Die Fakten der Vertrei­bung und die Umstän­de, unter denen sie durch­ge­führt wurde, werden erst jetzt, nach einem halben Jahrhun­dert, offen ausge­spro­chen. Folgen eines Krieges, wie er sich nie wieder ereig­nen darf.

Bielitz-Biala wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Wege der Einge­mein­dung zur Woiwod­schaft­haupt­stadt gemacht, zählt heute über 200.000 Einwoh­ner und heißt auf polnisch Bielsko-Biala.

Robert Michalik

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