Wir setzen unsere Bericht­erstat­tung »Vor einem halben Jahrhun­dert« fort mit einem Bericht von Herrn Robert Michalik, der in dankens­wer­ter Weise Fakten, Erleb­nis­se, persön­li­che Erinne­run­gen und Gedan­ken zusam­men­ge­tra­gen hat, die in die Zeit der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs zurück­wei­sen, als er, zusam­men mit anderen deutschen Vertrie­be­nen aus Bielitz (heute Polen) kommend, im Febru­ar 1945 in Oberko­chen, wo der Krieg noch andau­er­te, eintraf. Weite­re Bielit­zer folgten — ein Thema, das die einen heute verges­sen haben, andere verdrän­gen und das wieder andere noch nie erreicht hat: Auch ein Stück Oberko­che­ner Heimatgeschichte.

Dietrich Bantel

Flucht und Vertrei­bung der Bielit­zer — Teil 1
Ein Bericht von Robert Michalik

Oberkochen

Bielitz-Biala war eine schle­si­sche Kreis­stadt und eine deutsche Sprach­in­sel in der ehema­li­gen Monar­chie Öster­reich-Ungarn. Die Stadt liegt am Nordrand der Beski­den, dem nordwest­li­chen Ausläu­fer der Karpa­ten. Das Grenz­flüß­chen Bielke trenn­te das öster­rei­chi­sche Schle­si­en und Galizi­en und bilde­te die Volks­gren­ze. Es wird immer von der Doppel­stadt Bielitz-Biala gespro­chen, denn beide Städte waren eine kultu­rel­le und wirtschaft­li­che Einheit.

Anfang des 12. Jahrhun­derts stießen deutsche Siedler bis an den Rand der Beski­den vor und bilde­ten Dorfge­mein­den. Im 13. Jahrhun­dert riefen die Pisas­ten­her­zö­ge deutsche Bauern und Handwer­ker ins Land. Aus dem Dorf Altbie­litz ging ab dem 13. Jahrhun­dert die Stadt Bielitz hervor.

Solan­ge das alte Öster­reich bestand, also bis 1918, gehör­te die Doppel­stadt zu Öster­reich — Bielitz zum Kronland Schle­si­en, Biala zum Kronland Galizi­en, beide zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Entscheid der Volks­ab­stim­mungs­kom­mis­si­on (ohne Volks­ab­stim­mung) mußte sich Bielitz der polni­schen Staats­ho­heit einord­nen, hat aber weiter­hin mit Biala trotz starken polni­schen Zuzugs seine deutsche Wesens­art erhal­ten. Nur 30 km entfernt liegen die Stadt Teschen an der polnisch-tsche­chi­schen Grenze, im Norden das oberschle­si­sche Indus­trie­ge­biet und im Nordos­ten von Bielitz die frühe­re Königs­stadt Krakau.

Durch die bedeu­ten­de und Maschi­nen­in­dus­trie hat sich die Doppel­stadt Bielitz-Biala über die Landes­gren­zen einen Namen gemacht.

Es wurden Kammgarn- und Streich­garn­stof­fe in höchs­ter Quali­tät herge­stellt. Haupt­ab­neh­mer war England. Die Stoffe bekamen in England das Gütesie­gel und wurden als engli­sche Stoffe weiter­ver­kauft. So kamen auch die in großen Mengen ins Ausland gelie­fer­ten Schaf­woll­stof­fe als franzö­si­sche Damen­tu­che zurück.

Vom Sieges­lauf der Technik blieb Bielitz nicht unberührt
Durch Erfin­dun­gen wurde das Handwerk allmäh­lich aus den Stuben gedrängt. Neue Maschi­nen wurden in der Stadt gebaut. So konstru­ier­te die Firma Gustav Josephy Textil­ma­schi­nen — 1944 waren dort 1400 Leute beschäf­tigt. Die Firma Kurt Schwa­be fertig­te moder­ne Webstüh­le. Die handwerks­mä­ßi­ge Erzeu­gung von Tuchen wurde bald von der indus­tri­el­len Herstel­lung in Fabri­ken abgelöst.

Oberkochen

Hohe Kamine verän­der­ten das Stadt­bild und an Wochen­ta­gen bezeug­ten dicke Rauch­wol­ken aus einer Unzahl von Fabrik­schlo­ten den techni­schen Fortschritt und den Fleiß der Bürger. Bielitz wurde größer, die Einwoh­ner­zahl stieg zusehends. So war Bielitz eines der bedeu­tends­ten Textil­zen­tren im alten Öster­reich gewor­den. Auch Maschi­nen­fa­bri­ken und metall­ver­ar­bei­ten­de Betrie­be standen im Mittel­punkt der Indus­trie­stadt. Die Eisen­in­dus­trie entwi­ckel­te sich rasch. Beson­ders der moder­ne Maschi­nen­bau zeich­ne­te sich bald durch eigene prakti­sche Erfin­dun­gen und Verbes­se­run­gen aus und erober­te sich manchen Weltmarkt.

Die Doppel­stadt Bielitz-Biala liegt 1000 km von Oberko­chen entfernt und war einer der Eckpfei­ler des Deutsch­tums im Osten. Der zuneh­men­de Wohlstand brach­te kultu­rel­le Entwick­lungs­mög­lich­kei­ten. Die Stadt war zudem eine angese­he­ne Metro­po­le des Kultur- und Geistes­le­bens gewor­den. Die herrli­che Bergwelt der Beski­den, an deren Fuß es gebrei­tet liegt, war die letzte richtig deutsche Stadt an der Ostgren­ze Schle­si­ens. Sie zählte bis 1944 etwas über 50.000 Einwoh­ner. Bielitz hatte 17 % Polen, 3 % Tsche­chen und 80 % Deutsche. Zu einer geisti­gen Pflege gehören die Schulen — Volks- und Bürger­schu­len — eine Realschu­le, zwei Lehrer­bil­dungs­an­stal­ten, eine gerade­zu berühm­te Höhere Gewer­be­schu­le textil­tech­ni­scher und maschi­nen­tech­ni­scher Richtung mit angeschlos­se­ner Werkmeis­ter­schu­le, die dann zu einer Ingenieur­schu­le angeho­ben wurde. Höhere Handels­schu­len, eine Höhere Töchter­schu­le, eine Mädchen­haus­hal­tungs­schu­le, eine Volks­hoch­schu­le sowie eine Vielzahl priva­ter Volks­bil­dungs­schu­len — durch­weg deutsche Anstal­ten, nur um die wichtigs­ten zu nennen. Kein Wunder, daß Bielitz sich zu einem geisti­gen Zentrum in dieser Region entwickelte.

Im Jahr 1890 wurde in Bielitz das Stadt­thea­ter eröff­net, das ein verklei­ner­tes Abbild des Wiener Volks­thea­ters darstellt. Das schmu­cke Theater wurde zum Sprung­brett mancher berühmt gewor­de­ner Künst­ler. In den Jahren zwischen den beiden Weltkrie­gen war es das einzi­ge deutsch­spra­chi­ge Theater im damali­gen Polen.

In Bielitz pfleg­ten auch zahlrei­che deutsche Verei­ne ein inten­si­ves Sport- und Kultur­le­ben. Die Stadt wurde immer als Indus­trie- und Schul­stadt gerühmt; sie darf auch als Turner­stadt genannt werden. Der Jahn’sche Turnge­dan­ke hatte auch hier Fuß gefaßt und so wurde im Jahr 1862 der Bielitz-Bialaer B.B. Turnver­ein gegrün­det. Ein begeis­ter­ter Förde­rer des Turnens war Prof. Hermann Braetigam.

Zu erwäh­nen ist ferner, daß Bielitz schon früh einen Flugplatz hatte. Er lag in Alexan­der­feld, einem Stadt­teil von Bielitz, und war für Propel­ler­flug­zeu­ge der damali­gen Zeit gebaut.

Mit Bielitz verbin­den sich eine Reihe bekann­ter Namen:
Der Vater des Papstes Johan­nes Paul II. kam in der Doppel­stadt Bielitz-Biala zur Welt. Er besuch­te das deutsche Gymna­si­um. In seinem Städt­chen Wadowitz (Wadovice), in unmit­tel­ba­rer Nähe von Biala, steht im prunk­vol­len Glanz die Kirche des Johan­nes Paul II. Der Altlan­des­bi­schof der ev. Kirche in Württem­berg, Dr. Hans von Keler, kommt aus Biala.

Dr. Herbert Czaja, bekannt in Stutt­gart, gehört als Ostschle­si­er ebenfalls zu den Vertrie­be­nen. Er besuch­te das deutsche Staats­gym­na­si­um in Bielitz und erfuhr seine weite­re Ausbil­dung an den Univer­si­tä­ten Krakau und Wien.

Bielitz blieb die einzi­ge deutsche Stadt mit überwie­gend deutscher Bevöl­ke­rung in Polen bis zum Kriegs­be­ginn im Jahr 1939. Mit dem Zweiten Weltkrieg ging die fast 800jährige deutsche Geschich­te der Sprach­in­sel durch die Austrei­bung der Deutschen ab 1945 zu Ende. Die Deutschen aus Bielitz-Biala und Umgebung wurden in alle Winde zerstreut. Lands­leu­te, welche die Heimat noch recht­zei­tig vor den anrücken­den russi­schen Truppen verlas­sen konnten — es waren Frauen, Kinder und ältere Männer — suchten in Öster­reich und Deutsch­land, später den Westzo­nen, ein Unterkommen.

Als sich anfangs 1945 der Krieg dem Ende zuneig­te und auch in Bielitz schon der Kanonen­don­ner zu hören war, entschloß man sich an höherer Stelle — wie überall im Reich — die Kriegs­pro­duk­ti­on aus Sicher­heits­grün­den aus der Front­nä­he wegzu­ver­la­gern. Hier ging es um die Herstel­lung von Lafet­ten für Geschüt­ze, die bei der Firma Gustav Josephy’s Erben lief. Die Russen standen schon einige Kilome­ter östlich von Bielitz. Man wies die Firma an, Teile dieser Produk­ti­on nach Oberko­chen auszu­la­gern. In den Kriegs­jah­ren arbei­te­te die Produk­ti­on (Lafet­ten­bau) der Firma J. A. Bäuerle teilwei­se mit der Fa. Gustav Josephy in Bielitz zusam­men. Einige Betriebs­an­ge­hö­ri­ge von Oberko­chen hatten zuvor die Firma Josephy in Bielitz besichtigt.

In großen Kisten wurden viele Geräte, Maschi­nen und Materi­al für den Lafet­ten­bau von Bielitz nach Oberko­chen trans­por­tiert. Eine Gruppe von 14 Fachar­bei­tern kam Ende Febru­ar 1945 hier an. Ein kleiner Stab von Ingenieu­ren, Techni­kern und Meistern war schon zuvor als Vorkom­man­do angekom­men. Die zugereis­ten Fachar­bei­ter waren mit Marsch­be­fehl ausge­rüs­tet; sie hatten den Befehl, nach Ankunft in Oberko­chen sich sofort zu melden und die Produk­ti­ons­ar­beit aufzunehmen.

Zum Stab gehör­ten seiner­zeit u. a. Dr. Ing. Kühn, Dr. Ing. Urwalek, Direk­tor Hauge, Ing. Pudelek, Ing. Zagur­ski. Frau Emmi Wallosch­ke (verh. Reber) war seiner­zeit die einzi­ge Frau unter den Männern aus Bielitz; man hatte sie unter­wegs »aufge­le­sen« und mitge­nom­men; sie war zuvor bei Fa. Josephy im Büro tätig gewesen.

Die Neuan­kömm­lin­ge — es war der 14. Febru­ar 1945, in Süddeutsch­land war der Krieg noch nicht zu Ende — erhiel­ten in der Kanti­ne der Fa. Bäuerle ein warmes Mittag­essen. Zum Übernach­ten waren im Saal des Gasthofs »Grüner Baum« Stock­werk­bet­ten als Notla­ger für die erste Zeit aufge­schla­gen. Die Pächter­fa­mi­lie Betz bemüh­te sich, den Bielit­zern den Neuan­fang zu erleich­tern. Auch der damali­ge Bürger­meis­ter Heiden­reich war den Bielit­zern in allen Belan­gen sehr behilf­lich. Im Lauf der Tage kamen weite­re Perso­nen aus Bielitz an.

Am 4. März 1945 waren es Herr Rudolf Bathelt mit Frau und Tochter, jetzt verhei­ra­te­te Sophie Michalik und Frau Kaluza. Sie standen mit Koffer, Rucksack und etwas Handge­päck vor der Bahnhofs­wirt­schaft, gerade als um 19.00 Uhr die Glocken der katho­li­schen Kirche zum Abend­ge­bet läute­ten. Was mag wohl zu dieser Zeit in den Herzen dieser Flücht­lin­ge vorge­gan­gen sein? Herr Bathelt begab sich nach der Ankunft des Zuges zum damali­gen Rathaus (an der Stelle der Oberko­che­ner Bank), das infol­ge der späten Abend­stun­de bereits geschlos­sen war. Der damali­ge Gemein­de­die­ner, Herr Seibold — er wohnte im Rathaus­ge­bäu­de — öffne­te die Haustür, nahm uns herein und begrüß­te uns freund­lich. Er sah die verfro­re­nen Gesich­ter an und warf einen Blick auf die Habe, die wir bei uns hatten. Herr Seibold verstän­dig­te sogleich Herrn Bürger­meis­ter Heiden­reich mit den Worten »Hier sind Flücht­lin­ge aus dem Osten«. Kurz danach schon kam Herr Heiden­reich und nahm uns in Empfang. Er ging mit uns in die Dreißen­tal­stra­ße Nr. 8 zum Blumen- und Gemüse­ge­schäft »Mahler« und läute­te an der Haustür, die wie in der Winter­zeit üblich, geschlos­sen war. Herr Heiden­reich melde­te sich — wie er es immer tat — mit den Worten »Hier sind Flücht­lin­ge — sie müssen bei Ihnen übernachten«.

Robert Michalik

Oberkochen

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