Herr Dr. Wolfgang Pfeif­fer war so freund­lich, der Bitte des Heimat­ver­eins um 2 Beiträ­ge für unsere heimat­kund­li­che Serie »Oberko­chen — Geschich­te, Landschaft, Alltag« anläß­lich der 50. Jährung mehre­rer Ereig­nis­se, die das Schick­sal der Firma Carl Zeiss mit Oberko­chen verbin­den, zu entspre­chen. Der Bericht beleuch­tet die Situa­ti­on vor 50 Jahren in drasti­scher Deutlich­keit: Eine Weltfir­ma fängt im damali­gen Dorf Oberko­chen nach dem Krieg wieder bei Null an — eine unglaub­li­che Leistung.

Es ist kein Zufall, daß wir in Bericht 263 vom 15.3. d. J. vor diesem Hinter­grund die kommu­na­len Leistun­gen des damali­gen Bürger­meis­ters Rudolf Eber und dessen Nachfol­gers Gustav Bosch sowie die der jewei­li­gen gemein­de­rät­li­chen Gremi­en und die der Bürger Oberko­chens gewür­digt haben.

Heute, nach einem halben Jahrhun­dert, wird wieder­um deutlich, wie eng das Schick­sal der Kommu­ne mit dem der Firma verknüpft ist.

Dietrich Bantel

50 Jahre Carl Zeiss in Oberko­chen — Teil 1
Am 1. August 1946 began­nen die ersten Zeissia­ner im »neuen« Werk in Oberko­chen zu arbei­ten, einem damals noch schlich­ten Indus­trie­dorf mit knapp 3000 Einwoh­nern. Heute — 50 Jahre danach — zeigt sich Oberko­chen seinen Besuchern aus aller Welt als schmu­cke Stadt: Reizvol­le Grünan­la­gen, gedie­ge­ne Häuser, moder­ne Indus­trie­be­trie­be, Gymna­si­um und Musik­schu­le, anspruchs­vol­le Konzer­te und ein quirli­ges Vereins­le­ben zeigen ebenso wie das Carl-Zeiss-Stadi­on und ein Hallen­bad, daß es sich hier leben läßt.

Blicken wir fünfzig Jahre zurück, sehen wir die Not der Nachkriegs­zeit und ahnen etwas von Leistun­gen, die beina­he Berge versetz­ten und neben Tatkraft und Phanta­sie viel Idealis­mus, Mut und Optimis­mus voraus­setz­ten. Die Entwick­lung Oberko­chens in dieser Zeit wird nur verständ­lich, wenn man gut einund­fünf­zig Jahre zurückblättert.

In der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1945 dröhnen die Motoren einer Kolon­ne ameri­ka­ni­scher Armee­last­wa­gen durch Heiden­heim. Sie bringen weder Kriegs­ma­te­ri­al noch Solda­ten: Ihre »Lasten« sind die Führungs­kräf­te der Stiftungs­un­ter­neh­men Carl Zeiss und Jenaer Glaswerk Schott & Gen. mit Famili­en sowie Möbeln und persön­li­cher Habe. Diese Umsied­lung war von der ameri­ka­ni­schen Militär­re­gie­rung befoh­len worden, bevor Jena in die russi­sche Besat­zungs­zo­ne einge­glie­dert wurde.

Die Situa­ti­on dieser Famili­en war materi­ell und psychisch trost­los: Primi­tivs­te Unter­brin­gung in verwanz­ten (nicht Abhör­ele­tro­nik ist gemeint sondern Bettwan­zen!!) Räumen eines ehema­li­gen Sammel­la­gers für Umsied­ler (in der frühe­ren Polizei­schu­le), dann in Privat­häu­sern zur Unter­mie­te. Es fehlte an Geld, Lebens­mit­teln und Kleidung. Zunächst gab es auch keine Arbeit, keinen Betrieb, keine realis­ti­schen Zukunfts­per­spek­ti­ven. Doch das Unter­neh­men Voith half mit einigen Räumen; in der Zigar­ren­fa­brik Schäfer konnte später ein Stock­werk gemie­tet werden, und die Firma Piltz stell­te leihwei­se einige Werkzeug­ma­schi­nen zur Verfü­gung. Schließ­lich erteil­te die US-Militär­re­gie­rung am 26.2.1946 die Betriebs­er­laub­nis für eine Werkstät­te zur Repara­tur optischer Geräte. Doch all dies waren nur Provisorien.

Nach langer Suche fand sich in Oberko­chen eine freige­wor­de­ne Fabrik, in der die Firma Fritz Leitz Fahrwer­ke für Messer­schmitt-Flugzeu­ge gebaut hatte. Vor fünfzig Jahren nahmen dort rund 200 Zeissia­ner die Arbeit auf; ihr Unter­neh­men »Opton Optische Werke Oberko­chen GmbH« wurde dann am 4.10.1946 offizi­ell gegrün­det, 1947 in »Zeiss-Opton Optische Werke Oberko­chen GmbH« umbenannt und 1953 von Carl Zeiss (seit 1951 mit dem Firmen­sitz Heiden­heim) übernom­men. Die verwi­ckel­te juris­ti­sche Nachkriegs­ge­schich­te der Carl-Zeiss-Stiftung, Heiden­heim, kann in dieser heimat­ge­schicht­li­chen Betrach­tung nicht erzählt werden. Die Schott Glaswer­ke erlit­ten ein ähnli­ches Schick­sal wie Zeiss und erhiel­ten in Mainz ihren neuen Sitz. Aus diesen Wurzeln ist aufgrund der ungebro­che­nen Lebens­kraft der Carl-Zeiss-Stiftung ein weltweit tätiger Konzern gewach­sen, zu dem auch die Jenaer Tochter­ge­sell­schaf­ten von Zeiss und Schott gehören und der am Bilanz­stich­tag (30.9.1995) über 30.000 Menschen Arbeit gab.

Doch 1946 war zunächst das verwahr­los­te, ausge­plün­der­te Oberko­che­ner Werk in Ordnung zu bringen, verla­ger­te Maschi­nen mußten hertrans­por­tiert, neue konstru­iert und in Auftrag gegeben werden. All dies war fast unmög­lich im verarm­ten, zerris­se­nen Nachkriegs­deutsch­land. Als Motor des Neuauf­baus in Oberko­chen galt Dr. Heinz Küppen­ben­der, der sich auf seine Vorstands­kol­le­gen Prof. Dr. Walther Bauers­feld und Dr. Paul Henrichs sowie auf enorm motivier­te Mitar­bei­ter verlas­sen konnte.

Die Wohnungs- und Trans­port­pro­ble­me waren drama­tisch. Die zum Teil auf abgele­ge­ne Wohnor­te verstreu­te Beleg­schaft mußte mit Omnibus­sen zur Arbeit gebracht werden. Zeiss betei­lig­te sich deshalb an der neuen Omnibus­ver­kehrs­ge­sell­schaft Heidenheim.

Am 22. Oktober 1946 befahl die Sowje­ti­sche Militär­ver­wal­tung die Demon­ta­ge des Jenaer Werkes von Carl Zeiss. Zahlrei­che Arbei­ter suchten Zuflucht in Oberko­chen, wo sie monate­lang auf Dachbö­den und in Wasch­räu­men des Werkes unter­ge­bracht wurden. Das Unter­neh­men mußte handeln: Zunächst wurden die Baracken eines ehema­li­gen Lagers des Reichs­ar­beits­diens­tes oberhalb von Königs­bronn genutzt. (Dort befin­det sich heute die »Waldsied­lung«). Dann wurden 1947 und 1948 Baracken auf dem Oberko­che­ner Werks­ge­län­de errich­tet. Außer­dem trieb Zeiss-Opton mit aller Energie den Wohnungs­bau voran, zumal da der Flücht­lings­strom nach der Enteig­nung der Jenaer Werke am 1. Juni 1948 nochmals anschwoll. Ab Frühjahr 1948 zahlte Zeiss-Opton eine Entschä­di­gung an Mitar­bei­ter, die getrennt von ihren Famili­en leben mußten.

1951 zählte man fast 400 werks­ei­ge­ne oder werks­ge­för­der­te Wohnun­gen. Als die von 1956 bis 1977 tätige Carl-Zeiss-Wohnungs­bau­ge­sell­schaft verkauft wurde, gab es schon ca. 1800 von Zeiss erstell­te bzw. geför­der­te Wohnun­gen und einige hundert durch Werks­dar­le­hen unter­stütz­te Bauten. Firma und Betriebs­rat, Staat, Kreise und Gemein­den (Oberko­chen, sowie die benach­bar­ten Städte und Orte), Banken, Bauge­nos­sen­schaf­ten und Bauge­sell­schaf­ten hatten Hand in Hand mit Privat­leu­ten ein Problem gelöst, dessen Dimen­sio­nen auch durch folgen­de Angaben deutlich werden: Bereits 1951 war das neue Unter­neh­men das größte im damali­gen Kreis Aalen, und zwei Drittel der Beleg­schaft waren Jenaer oder Flücht­lin­ge. Von 1946 bis 1953 wuchs die Bevöl­ke­rung von Oberko­chen um 77 %!

Wolfgang Pfeif­fer

Oberkochen
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