Während meiner Nachforschungen zu der nun abgeschlossenen »Aufsatzserie 1941 — 1943« erfuhr ich, daß einer der Soldaten, die zu dieser Zeit in Oberkochen einquartiert waren, in Oberkochen »hängengeblieben« ist: Herr Alois Vilgis. Er hatte 1940 ein Oberkochener Mädchen kennengelernt, das er 1954 heiratete: Maria Hug (Hugaschreiner).
Herr Vilgis berichtete, wie er nach Oberkochen kam, und wie er das, was Schüler in ihren Aufsätzen beschrieben, als 1918 in Rottenbach in Bayern gebürtiger Soldat erlebt hat, 22jährig.
Oberkochen war nur eine von ungezählten Stationen in seinem 9jährigen Soldatenleben. 1936 eingezogen, sollte er gerade entlassen werden, als er im Zeichen der Kriegsvorbereitungen »einbehalten« wurde. So wurde nichts aus den ursprünglichen Plänen, zusammen mit 2 weiteren Kameraden in die USA auszuwandern.
Aus heiterem Himmel kam 1938 in Mittenwald der Befehl, kriegsmäßig ausgerüstet Richtung Landsberg auszurücken. Erst kurz vor der Grenze, als der Schlagbaum aufging, hieß es: »Wir marschieren in Österreich ein«. Der Jubel und die Begeisterung der Österreicher war unbeschreiblich groß. Es herrschte Volksfeststimmung in Kufstein spielte die Heldenorgel. 1945 war die Euphorie verflogen.
Später machte Herr Vilgis mit dem Nachrichtenzug den Einmarsch ins Sudetenland mit. Dort sei die Begeisterung der Bevölkerung »mäßig« gewesen.
1939 erfolgte der Einmarsch in die Tschechei. Dort wurden die Soldaten mit drohenden Gebärden und Mistgabeln empfangen. In der Slowakei dagegen war die Bevölkerung freundlich.
Im selben Jahr machte Herr Vilgis den Einmarsch in Polen mit und wurde dann aber bald zur Sicherung der Westgrenze ins Rheinland abkommandiert. Seine ursprünglich rein bayerische Division war inzwischen bunt gemischt.
Im Mai 1940 erhielt die Truppe den Befehl, über Belgien in Frankreich einzumarschieren, wo sie auf großen Widerstand stieß. Gewaltmärsche bis über 90 Kilometer pro Tag wurden den Soldaten abverlangt. »Kein Tag unter 50 Kilometer«.
Nach Frankreich kam es zu einem erneuten Einsatz in Polen. Von Polen erfolgte die Verlegung nach Deutschland.
Am 29. September 1940 kam Herr Vilgis mit seinem Nachrichtenzug nach Oberkochen. Die Soldaten sollten ursprünglich im »HJ-Heim«, später Bergheim, heute Sonnenbergschule, stationiert werden. Die Oberkochener hätten aber spontan für private Unterbringung gesorgt. Platz habe es gehabt, weil die Männer und Söhne im Krieg waren. Herr Vilgis wurde bei Familie Gentner im Katzenbach, gegenüber Tankstelle Balle (1995 abgebrochen), aufgenommen.
Funkwagen, Fernsprechanlagen und anderes technisches Gerät zur Artillerievermessung, Beobachtungsgeräte, endlos Kabel und nach einiger Zeit Pferde waren unterzubringen.
Beim Kronenwirt Elmer war die Rechnungsstelle, in dessen Heustadel die Waffenmeisterei. Die Tross-Pferde wurden bei verschiedenen Landwirten in Scheuern eingestellt — Gold, Schill, Seitz, Scheerer, bei Hahn (Hahnafritz), im Zehntstadel, dann in Gebäuden, wo heute Schlecker und Norma stehen, und bei Willibald Hug, wo eine Wach- und Meldestube war. Die edleren Pferde der »Häuptlinge« waren in der Scheuer vom Hirschwirt Nagel. Der Appellplatz war im Hof bei Franz Balle gegen. über COOP.
So grausig aufreibend war der Dienst nicht. Nach dem ersten Appell vor dem Rathaus gabs zunächst 4 Wochen Urlaub. Einmal mußte Herr Vilgis mit einem kranken Pferd nach Ulm ins Pferdelazarett, zu Fuß, 50 Kilometer. Zurück mit der Bahn. Einander Mal mußte man per Fußmarsch 60 Kilometer zu einer Übung nach Münsingen und nach 3 Tagen wieder zu Fuß zurück.
Die Stammwirtschaft der ca. 80 in Oberkochen einquartierten Soldaten war der »Pflug«. Der Oberkochener Nachrichtenzug hatte 3 Kompanien zu versorgen. Eine 4. saß in Unterkochen, eine 5. in Ebnat und eine 6. in Königsbronn.

Während dieser Zeit wurden viele Freundschaften mit der Bevölkerung geschlossen. Das Foto zeigt Herrn Vilgis (links) im Jahr 1941 zusammen mit einem Kameraden namens Franz Burger, der später gefallen ist, unten beim »Hugaschreiner« bei der Molke, zigarrenrauchend.
Am 8. Mai 1941 — das sind nun 55 Jahre — wurden die Oberkochener Soldaten nach Heidenheim abgezogen. Beim Abschied war, wie in den Aufsätzen beschrieben, ganz Oberkochen unterwegs, die Schüler durften sogar während des Unterrichts ihren Soldaten auf Wiedersehn sagen. In Heidenheim wurden die 80 zusammen mit anderen in die Bahn »verladen«. Der Zug fuhr dann Richtung Aalen und brauste in wilder Fahrt durch Oberkochen — es blieb nur der Eindruck von einer großen winkenden Menschenmenge auf dem Bahnhof. Es ging wieder nach Frankreich.
Von Frankreich wurde Herr Vilgis nach Rußland abgezogen. Kiew. Kesselschlachten, gnadenlos harte Zeiten. Von der 80 Mann starken Oberkochener Einheit haben nur 15 den Krieg überlebt.
Herr Vilgis hatte später die Leitung von Munitionstransportzügen nach Rußland und blieb durch Schicksalsfügung vor dem Schlimmsten in Rußland bewahrt. Er kam dann wieder nach Deutschland und erlebte das Kriegsende am Bodensee, wo er gefangen und mit französischem Entlassungsschein frei wurde und bar jeglicher Auszeichnungen in 6 Tagen nach München marschierte. »Das tat weh«.
Aber noch größer, so Herr Vilgis, war die Enttäuschung über die Machthaber des 3. Reichs, als die Wahrheit im Zusammenhang mit der Ermordung der Juden bekannt wurde.
Mit der Zeit in Oberkochen verbindet Herr Vilgis schöne Erinnerungen. Er schloß seine Erzählungen, die noch viele weitere Details umfaßten, mit der Feststellung, daß den freundlichen und hilfsbereiten Oberkochenern noch heute Dank gebührt.
Dietrich Bantel