Konrek­tor Gottlob Braun (1901 — 1984) ist in Oberko­chen ein Begriff. Die Familie Braun lebte bis 1965 im alten ev. Schul­haus, heute »Schil­ler­haus«. (Siehe unsere Berich­te 251 und 252). Tochter Ursula Braun überließ dem Heimat­ver­ein freund­li­cher­wei­se eine Reihe von Unter­la­gen aus dem Nachlaß ihres Vaters. Das kostbars­te Stück ist zweifels­oh­ne ein dickes ursprüng­lich leeres Buch, in welches Lehrer Braun ca. 70 Schüler­auf­sät­ze aus den Jahren 1933 — 1943, die ihm beson­ders bemer­kens­wert erschie­nen waren, übertra­gen lassen hatte — entwe­der von den Verfas­sern selbst oder von schön schrei­ben­den Mitschülern.

Von diesen 70 Aufsät­zen, die — bis auf einen — alle in Sütter­lin­schrift geschrie­ben sind und für den Abdruck zunächst übertra­gen werden mußten, stammen aller­dings nur knappe 20 aus Oberko­chen. Sie sind in den Jahren 1941 — 1943 geschrie­ben, einer Zeit, aus der manches verdrängt oder verges­sen, vieles aber auch gespei­chert ist. Leider gibt es nur wenig Geschrie­be­nes aus dieser Zeit. Die Gemein­de­rats­pro­to­kol­le von 1938 — 1945 beispiels­wei­se sind, so wird berich­tet, in den letzten Kriegs­ta­gen zerstört worden. So müssen wir heute ein wahres Bild dieser Zeit mühsam zusammenstückeln.

Aus diesem Grund habe ich mich bemüht, das Einver­ständ­nis der Aufsatz-Verfas­ser zur Veröf­fent­li­chung dersel­ben zu erhal­ten. Die damali­gen 7.- und 8.-Kläßler sind heute durch­schnitt­lich 68/69 Jahre alt. Ihre Aufsät­ze vermit­teln ein äußerst leben­di­ges Bild der Kriegs­zeit aus der Sicht der Schüler des Dorfs Oberko­chen, das damals wenig mehr als 2000 Einwoh­ner zählte. Die 15 Aufsät­ze, die wir abdru­cken werden, geben einen hervor­ra­gen­den Einblick in den schuli­schen Alltag. Es ist faszi­nie­rend, nachzu­er­le­ben, wie die damals 13- und 14jährigen Schüle­rin­nen und Schüler, im wesent­li­chen des Jahrgangs 1927, vom Zeitgeist mehr oder weniger gestreift oder beein­flußt waren. Die 13- und 14Jährigen des Jahres 1996 sollten diese Aufsät­ze mit großer Aufmerk­sam­keit lesen.

Mein Dank gilt allen, die mit ihrem »Ja« zur Veröf­fent­li­chung ihrer Aufsät­ze eine nachdenk­lich stimmen­de Beitrags­rei­he im Rahmen unserer heimat­kund­li­chen Bericht­erstat­tung ermög­li­chen. Mein Dank gilt auch Frau Ursula Braun, die uns das Werk ihres Vaters überlas­sen hat, und mein Dank gilt der Redak­ti­on von »Bürger und Gemein­de«, die wieder einmal unter­streicht, daß sie weit mehr als ein gewöhn­li­ches Amtsblatt gestaltet.

Die Aufsät­ze erschei­nen wie folgt:

Bericht 261 am 16.2.96:
»Beim Pferde­ap­pell« von Flori­an Balle (gef.)
»Unsere Solda­ten nehmen Abschied« von Flori­an Balle (gef.)
»Vom Abschied unserer Solda­ten« von Klara Holz (verh. Wunderle)

Bericht 262 am 1.3.96:
»Wir sammeln engli­sche Flugblät­ter« von Josef Brand­stet­ter (Jeremis)
»Wir suchen Flugblät­ter« von Meinrad Merz (gest.) »Ein Flugzeug landet« von Emil Elmer

Bericht 263 am 15.3.96:
»Meine Schier müssen einrü­cken« von Albin Schaupp
»Die Spinn­stoff­samm­lung« von Elisa­beth Bäuerle (gest.)
»Bei den Solda­ten« von Engel­bert Grupp

Bericht 264 am 29.3.96:
»Flieger­alarm« von Lene Baß (verh. Käss)
»Beim Flachs­ha­cken« von Lene Baß (verh. Käss) »Landjah­ria­ger Schroz­berg«, kein Verfas­ser genannt

Bericht 265 am 12.4.96:
»Brief an einen Solda­ten« von Marti­na Hug (verh. Betzler)
»Der Soldat unserer Familie« von Marti­na Hug (verh. Betzler)
»Der Soldat unserer Familie« von Marti­na Dicken­herr (verh. Glöggler)

Wir werden uns erlau­ben, die Aufsät­ze, sofern möglich oder auch notwen­dig, mit zusätz­li­chen Kommen­ta­ren, auch solchen der Verfas­ser oder deren Verwand­ten, zu versehen.

Rechts unter den Aufsät­zen sind deren Verfas­ser genannt, links Schüle­rin­nen anderer Klassen, die die Aufsät­ze in das Buch des Lehrers Braun abzuschrei­ben hatten. Ist nur ein Name genannt, so kann davon ausge­gan­gen werden, daß der Verfas­ser seinen Aufsatz und die Verfas­se­rin ihren Aufsatz selbst in das Buch übertra­gen hat.

Dietrich Bantel

Oberkochen

Bei dem Pferde­ap­pell
Bei einem der letzten Pferde­ap­pel­le auf dem Mühlhof hatte ich Gelegen­heit alles mitan­zu­schau­en. Punkt 11 Uhr kamen die Unter­of­fi­zie­re und Wacht­meis­ter, die zu dem Pferde­ap­pell benötigt wurden. Sie schrit­ten die Reihen der Pferde ab, die schon bereits angetre­ten waren. Als Wacht­meis­ter Seidel an Oberge­frei­ter Nömers Pferd Hans vorbei­kam, schrie Nömer: Hans nehm ihn! indem er Wacht­meis­ter Seidel an der Koppel packte. Wacht­meis­ter Seidel erschrak und sprang zur Seite, wie er sah, daß das Pferd sich bäumte und ihn zertram­peln wollte. Oberge­frei­ter Nömer riß das Pferd am Zügel, daß Hans gerne wieder hinstand. So machte es Nömer noch ein paar Unter­of­fi­zie­ren. Auf einmal hieß es: Still­ge­stan­den, Augen rechts, richt euch! Da auf einmal kamen Haupt­feld­we­bel Huber und Leutnant Amies­mai­er. Wacht­meis­ter Seidel erstat­te­te Bericht über die angetre­te­ne Mannschaft und die Pferde. Jetzt beginnt der Pferde­ap­pell. Wacht­meis­ter Seidel mußte den Rücken, Unter­of­fi­zier Mach mußte die Beine, Seidel den Schweif und Spran­ger mußte Mähne und Kopf kontrol­lie­ren. Fiel ein Pferd auf wegen Schmutz, so wurde der Pfleger von dem Spieß recht herun­ter­ge­staucht. Als Nömer an die Reihe kam, nahm ein anderer Soldat Hans, um ihn kontrol­lie­ren zu lassen. Hans setzte einen Galopp an und riß den Soldat im Hof umher. Die Neugie­ri­gen spran­gen alle zurück. Nömer lachte nur, hielt es an und ließ es kontrol­lie­ren. Ich mußte gleich danach nach Hause. Auf dem Heimweg traf ich Alfons. Ich sagte zu ihm: Bua, in dr Mühle donda hat dr Hans an Soldat umanan­der grissa wie a Muck.
Verfaßt von Flori­an Balle, 10.05.1941

* * *

Unsere Solda­ten nehmen Abschied
Am Freitag, dem 9. Mai mußten unsere Solda­ten abrücken. Den Diens­tag zuvor war im Hirsch Abschieds­fei­er. Da waren alle Quartier­leu­te einge­la­den und bekamen ein Abend­essen. Der Nachrich­ten­zug wurde in zwei Abtei­lun­gen formiert. Die erste Abtei­lung rückte kurz vor 11 Uhr ab. In der Schule hieß es: D’ Solda­ta gangat. Wir bekamen zwanzig Minuten frei. Unter Gejohl rannte die ganze Klasse auf die Landstra­ße vor, wo gerade die letzten Fahrzeu­ge vorbei zogen. Wir Buben rannten im höchs­ten Galopp an der Kolon­ne vorbei, bis wir an der Spitze waren. Ich schau­te mir alle Pferde und Solda­ten an, bis ich meinen Solda­ten fand. Ich packte ihn beim Stiefel und sagte: Also, Herr Hessler, auf Wieder­se­ha, daß Sia fei wieder nach Oberkocha kommet! Er sagte nur: Richt nur drhoim viel Grüß aus. Ihm standen die Tränen in den Augen. Wir alle mußten umkeh­ren, denn die Pflicht der Schule rief uns. Die zweite Abtei­lung rückte kurz vor 6 Uhr ab. Am Hirsch mußte die zweite Abtei­lung antre­ten. Um 3/4 6 Uhr waren bereits alle Einwoh­ner beim Hirsch, um den Solda­ten einen schönen Abschied zu berei­ten. Viele Mädchen und Frauen brach­ten Blumen, um die Solda­ten und Pferde zu schmü­cken. Gleich kam der Befehl: Aufsit­zen! Die Leute, die sich noch nicht verab­schie­det hatten, machten schnell ihren Rundgang. Nach ein paar Minuten hieß es: Abrücken! Manchem Mädchen und mancher Frau standen die Tränen in den Augen. Mich rief dann gleich die Arbeit. Jetzt ist das Dorf ganz leer. Aber bald soll Oberko­chen wieder eine Garni­son werden.
Verfaßt von Flori­an Balle, 17.05.1941

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Vom Abschied unserer Solda­ten
Am 9. Mai gingen unsere Solda­ten, die schon lange bei uns einquar­tiert sind. Schon eine Woche vorher hieß es: »D’Sol­da­ta müssat ganga«. Meine Mutter sagte gleich, als sie es hörte: »O, des wird dene Mädla arg sei, dann werat se greina«. Eine Abtei­lung ging schon vormit­tags um 11 Uhr. Wir waren gerade in der Schule, als sie abmar­schier­ten. Auf einmal hieß es »D’Sol­da­ta gangat«. Herr Braun sagte: »Gangat no, aber um 1/4 12 Uhr müßt ihr wieder da sein.« Gleich rannten wir vor zum Rößle. Da sahen wir gerade noch die letzten Solda­ten. Berta und ich spran­gen gleich davon, bis wir die ersten Solda­ten sahen. Wir winkten feste und sagten: »Ade, bleibst gsund«. Sie sagten: »Mädla, bleibst brav, ade«. Wir warte­ten, bis alle Solda­ten an uns vorbei waren. Wir spran­gen dann wieder in die Schule. Jeder Soldat hatte ein Sträuß­chen im Knopf­loch. Auch ihre Pferde und Wagen hatten sie schön mit Blumen geschmückt. Die andere Abtei­lung ging erst abends um 6 Uhr. Seit unsere Solda­ten fort sind, ist es in unserem Dorf leer. Die Leute sagen, daß bald wieder Solda­ten zu uns kommen.
Verfaßt von Klara Holz (verh. Wunder­le), übertra­gen von Luzia Tritt­ler (verh. Hug)

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Zu Flori­an Balle, Soldat, geboren 4.5.1927, gefal­len 12.3.1945
Flori­an Balle ist der Bruder des Landwirts Josef Balle, der mir über seinen Bruder erzählte:

Er war ein lusti­ger Kerl. Nach Abschluß der Schule mit 14 Jahren machte er eine Lehre bei der Firma Bäuerle. Mit 16 Jahren mußte er »einrü­cken«, d. h., er wurde einge­zo­gen und mußte Soldat werden. Während eines Heimat­ur­laubs legte er seine Prüfung ab.

Am Heili­gen Abend des Jahrs 1944 kam er an die Ostfront, per Güter­wa­gen. Von dort kam ein letzter Brief nach Hause. Im Novem­ber des Jahres 1945 erhielt die Familie die Nachricht, daß Flori­an bereits am 12. März des Jahres nordwest­lich von Agard am Südost­ufer des Velen­c­zer Sees als 17jähriger in Ungarn gefal­len ist. Bei seinem Abschied ein Viertel Jahr zuvor hatte er geäußert, daß er wohl nicht mehr heimkomme.

Ein Zettel mit der Nachricht vom Tod Flori­ans war von dessen Leutnant aus einem Gefan­ge­nen­la­ger durch den Zaun hindurch an eine Frau geschmug­gelt worden, die diesen weiter­lei­te­te. Im Heimat­buch auf Seite 209 befin­det sich ein Foto von Flori­an mit seinen Lebensdaten.

Dietrich Bantel

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