Der Winter! Gleich nach unserer Ankunft erleb­ten wir einen Kälte­ein­bruch, mit Schnee­mas­sen, wie die meisten von uns Stadt­kin­dern sie nie zuvor gesehen hatten. Bis zum heuti­gen Tag ist dieser Winter in Oberko­chen mit seinen Gelän­de­spie­len, den gewal­ti­gen Schnee­ball­schlach­ten und all dem Unfug, den wir trieben, für mich der Winter aller Winter geblieben.

Als Schnee und Eis gewichen waren, schärf­te Neth auf langen Spazier­gän­gen unseren Blick für das Erwachen der Natur. Bis in den Sommer hinein gehör­ten solche Ausflü­ge zum Lager­all­tag. Auch mit dem LMF brachen wir auf zu ausge­dehn­ten Streif­zü­gen in die Umgebung und auf den Volkmarsberg.

Mittwoch­nach­mit­tags war keine Arbeits­zeit, sondern Jungvolk­dienst, für uns kurz »Dienst«. Wir mußten Uniform tragen und im Hof antre­ten. Auch Sport wurde im Dienst getrie­ben. Da Neth dieses Fach als einzi­ges nicht unter­rich­te­te, mußte sich der LMF um unsere körper­li­che Ertüch­ti­gung kümmern.

Hier ist der Platz für eine Anmer­kung. Als die Evaku­ie­rungs­plä­ne seiner­zeit bekannt­ge­ge­ben waren, hatten nicht wenige Famili­en befürch­tet, daß man ihnen die Kinder entzie­hen wolle, um sie in KLV-Lagern ideolo­gisch zu beein­flus­sen, und zweifel­los hatte das ursprüng­lich auch in der Absicht der NSDAP gelegen. Berich­te über HJ-Führer, die aus ihren Lagern kleine Kaser­nen gemacht hatten, taten ein übriges. Aber die Wirklich­keit, die wir erleb­ten, blieb weit hinter solchen Befürch­tun­gen der Eltern — und den Hoffnun­gen der Partei — zurück. Der Jungvolk­dienst hat uns im Lager nicht mehr in Anspruch genom­men, als er es zu Hause getan hätte. Und an Indok­tri­na­ti­on haben wir auch nicht mehr erfah­ren, als es beim Jungvolk — in das ja alle Zehnjäh­ri­gen eintre­ten mußten — landauf, landab üblich gewesen ist, und das ging nicht sehr tief. Erfah­run­gen mit schika­nö­sen HJ-Führern, die man andern­orts gemacht hat, sind uns erspart geblieben.

Wie eng die Famili­en­bin­dun­gen waren, zeigte sich einmal im Monat, wenn »Besuchs­sonn­tag« war. Dann fielen Mütter, Geschwis­ter, Großmüt­ter und Tanten gleich scharen­wei­se in Oberko­chen ein, sehnlichst erwar­tet von den Jungs, von denen viele, lange bevor sich die ersten Besuche­rin­nen zeigten, auf der Hofmau­er standen und angestrengt ins Tal spähten. Die Mütter brach­ten neben mancher­lei Eßbarem auch saube­re Wäsche. Resolut sahen sie in Spinden und Stuben nach dem Rechten und nahmen ihren Söhnen die drecki­gen Klamot­ten weg. Das Lager summte und braus­te und quoll fast über vor Betrieb­sam­keit. Neth war den ganzen Tag nicht zu sehen. Er hockte in seinem Zimmer und hatte Sprechstunde.

Wenn sich unsere Angehö­ri­gen am späten Nachmit­tag auf den Heimweg machten, brach­ten wir sie zum Bahnhof. Einmal beglei­te­te ich meine Großmutter und meine Paten­tan­te. Da hörten wir, wie hinter uns ein Klassen­ka­me­rad zu einem anderen sagte: »Jetzt sollte aus jedem Wagen ein Rad sprin­gen, dann könnten sie nicht fort und müßten alle dablei­ben«, und er kicher­te zufrie­den, als ob sich die Panne bereits ereig­net hätte. Die beiden Frauen waren zu Tränen gerührt. So etwas konnten sie behal­ten. Noch nach Jahren erinner­ten sie sich: »Weißt du noch, damals in Oberko­chen, wie der Junge gesagt hat … — ach Gott!«

Einige nicht alltäg­li­che Unter­neh­mun­gen sind uns allen im Gedächt­nis geblie­ben. So etwa unsere Exkur­si­on in den Stein­bruch, wo wir eifrig Ammoni­ten und »Donner­kei­le« sammel­ten. Ich kehrte mit gefüll­ten Hosen­ta­schen zurück. Am darauf­fol­gen­den Besuchs­sonn­tag mußte ich eine Meute­rei unter­drü­cken, als ich meiner Mutter zumute­te, »die Steine« nach Kornwest­heim zu »schlep­pen«.

Oder unsere Tages­wan­de­rung nach Königs­bronn. Unter­wegs erfuh­ren wir, was es mit der Europäi­schen Wasser­schei­de auf sich habe, und ich möchte hier nicht ausplau­dern, auf was für Ideen 12jährige Buben an so einem Platz kommen, wenn der Lager­lei­ter außer Sicht­wei­te ist. Demge­gen­über ließ uns der stille Brenz­topf ziemlich kalt. Unser stren­ger Lehrer muß an diesem Tag in Festtags­lau­ne gewesen sein. Am Itzel­ber­ger See zeigte er uns höchst­ei­gen­hän­dig, wie man flache Steine über das Wasser hüpfen läßt.

Oberkochen

Einmal lud uns das Oberko­che­ner Jungvolk zu einer Sonder­vor­füh­rung von Veit Harlans Film »Der große König« ein. Natür­lich war das ein »Durch­hal­te­film«, aber diese Botschaft erreich­te mich nicht. Ich war so hinge­ris­sen vom histo­ri­schen Dekor, daß ich blind blieb für die Paral­le­len zur aktuel­len Kriegs­la­ge. Nach diesem Kinobe­such, der übrigens unser einzi­ger bleiben sollte, brach in der Klasse eine regel­rech­te Fride­ri­cus-Manie aus. Es war kein Zufall, daß unsere beiden Schlaf­räu­me »Stube Seydlitz« und »Stube Ziethen« hießen.

Und dann, es war schon gegen Ende des Schul­jah­res, fuhren wir mit dem Härte­feldb­ähn­le in die Himbee­ren. Die Ernte, die wir kübel­wei­se anschlepp­ten, wurde in der Küche zu Marme­la­de verar­bei­tet. Aber die war schon nicht mehr für uns bestimmt, sondern für die Klasse, die uns nachfol­gen sollte.

Am 12. Juli began­nen die Großen Ferien. Wir hatten die erste Klasse hinter uns und durften heimfah­ren. Aller­dings war es uns nicht erlaubt, an unserem Wohnort zu bleiben. Wir sollten die Ferien auf dem Land verbrin­gen und uns von der örtli­chen Polizei­be­hör­de den Aufent­halt beschei­ni­gen lassen. Doch das Verbot wurde auf jede mögli­che Art umgan­gen. Die meisten verbrach­ten auch ohne offizi­el­le Erlaub­nis wenigs­tens einen Teil der Zeit bei ihrer Familie.

Ende August trafen wir uns zum letzten Mal in Oberko­chen. Wir waren jetzt Klasse 2a und hätten eigent­lich nach Essin­gen gehört, aber anschei­nend klapp­te es noch nicht ganz mit den Quartie­ren bei Privatfamilien.

Doch nach ein paar Tagen hieß es Abschied nehmen von unserem alten Klassen­leh­rer und dem Lager, vom Kocher­tal mit seinen vertrau­ten Wiesen, Hängen und Wäldern und vom Volkmars­berg. In Essin­gen warte­ten neue Lehrer und neue Abenteu­er auf die 2a. Als unser Zug abfuhr, war wohl kaum einem von uns richtig bewußt, daß wir in Oberko­chen eine unver­gleich­li­che Erfah­rung gemacht hatten. Natür­lich ist uns kleinen Kerlchen die vorüber­ge­hen­de Trennung von zu Hause schwer­ge­fal­len, aber sie hat uns auch selbstän­di­ger gemacht, früher als die meisten Gleich­alt­ri­gen. Und wir haben Glück gehabt, auch das wissen wir heute zu würdi­gen. Ungeach­tet aller Absich­ten der Partei­dienst­stel­len hat man im Lager Oberko­chen nicht versucht, aus den Schülern kleine verbis­se­ne Nazis zu machen, unserem Lehrer Neth — und den Lager­mann­schafts­füh­rern — sei Dank. Niemals wieder haben wir eine Zeit so inten­siv erlebt wie diese 8 Monate. Bezeich­nend ist, daß alle Kamera­den von damals die Dauer unserer Evaku­ie­rung im nachhin­ein kraß überschätz­ten, als wir uns nach über 50 Jahren wieder trafen.

Wie es weiter­ging mit dem KLV-Lager Wü/105? Am 7. Septem­ber 1944 kamen die Schüler der neuen 1a an. Sie hatten es schwe­rer als wir. Der Krieg trat in seine letzte Phase. Die Fronten rückten näher. Im Oktober 1944 erober­ten die Ameri­ka­ner Aachen, die erste deutsche Großstadt. Der Luftkrieg verschärf­te sich. In den Städten duckten sich die Menschen nicht mehr nur nachts in den Kellern, jetzt rannten sie schon am hellich­ten Tag um ihr Leben. Auch auf dem Land sah man sich einer ganz neuen Geißel des Krieges ausge­setzt: den Tiefflie­gern. Und Neth mußte in den Reihen des Oberko­che­ner Volks­sturms exerzie­ren. Am 10. Januar 1945 wurde das Lager ins Otto-Hoffmeis­ter-Haus bei Schopf­loch, Kreis Nürtin­gen, verlegt — 1 Lehrer, 1 LMF und 33 Jungen. Doch der Klasse ist hinläng­lich bekannt, wie verwor­ren die Lage damals war. Am 6. April evaku­ier­te man die Evaku­ier­ten zum dritten­mal. Wohin? Erst einmal nach Ulm, dort würden weite­re Anwei­sun­gen auf den Lager­lei­ter warten. Aber in Ulm fanden sich keine Anwei­sun­gen, kein Mensch wußte, was man mit den Reisen­den anfan­gen sollte. Die Schüler verbrach­ten die Nacht zusam­men mit ihrem Lehrer auf dem Bahnge­län­de, im Warte­saal. Am nächs­ten Tag trug Neth die Sache dem KLV-Inspek­teur Seibold vor. War es das energi­sche Auftre­ten des Lager­lei­ters oder die Ratlo­sig­keit des Inspek­teurs, der auch nicht wußte, wohin mit den Kindern — jeden­falls löste Seibold das Lager am 7. April 1945 auf. Die Buben wurden »in die Heimat beurlaubt«. Wenn man bedenkt, was in diesen April­wo­chen noch alles möglich gewesen ist, staunt man fast über soviel Einsicht und gesun­den Menschenverstand.

Damit endet die Geschich­te des KLV-Lagers Wü/105 — gerade einen Monat vor dem endgül­ti­gen Zusam­men­bruch des tausend­jäh­ri­gen Reiches.

Siegfried Härer, Kornwestheim

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