In den 1962 an der Dreißen­tal­schu­le unter Rektor Georg Hagmann entstan­de­nen »Beiträ­gen zur Heimat­kun­de« beschreibt u. a. Dorothea Feihl, wie im Oktober 1944 »Oberleh­rer und Kirchen­mu­sik­di­rek­tor Fischer und 36 Stutt­gar­ter Kinder in Oberko­che­ner Privat­woh­nun­gen unter­ge­bracht wurden«. Dagegen haben Schüler aus dem Stutt­gar­ter Raum, die im sog. »KLV-Lager Bergheim Oberko­chen« Unter­schlupf gefun­den hatten, bislang keine Beach­tung erfah­ren. Einer der damals Betei­lig­ten hat uns nun über den Aufent­halt vor 50 Jahren einen Bericht zukom­men lassen, den wir in zwei Abschnit­ten veröffentlichen.

(VS)

Das KLV-Lager Oberko­chen-Bergheim, 1944 — Teil 1
Wer weiß heute noch, daß es im Kriegs­jahr 1944 in Oberko­chen ein KLV-Lager gegeben hat? Keine Angst, das ist nichts Schlim­mes. Man muß sich nicht dafür schämen.

KLV steht für »Kinder­land­ver­schi­ckung«, eine Maßnah­me, durch die während des Krieges Tausen­de von Schul­kin­dern aus bomben­ge­fähr­de­ten Städten in ländli­che Gegen­den gebracht wurden. Im April 1943 bezog man auch Stutt­gart in die KLV ein, nachdem erstmals ein Luftan­griff auf die Stadt mehr als 100 Todes­op­fer gefor­dert hatte.

Das Evaku­ie­rungs­pro­gramm sah vor, daß jünge­re Schüler bei Pflege­el­tern, also in Privat­fa­mi­li­en, unter­kom­men sollten, für die 10- bis 14Jährigen wollte man Heime — eben KLV-Lager — einrich­ten. Aber es stell­te sich heraus, daß 1943 in Württem­berg kaum noch geeig­ne­te Heime zur Verfü­gung standen, weil zuvor schon Schul­klas­sen aus dem Gau Essen aufge­nom­men worden waren. Typisch für die Verschi­ckung der Stutt­gar­ter Kinder war deshalb die Unter­brin­gung bei Privat­fa­mi­li­en. Im Herbst 1943 begann die Evaku­ie­rung. Die Schulen der Innen­stadt wurden geschlos­sen. Den Eltern blieb nur die Entschei­dung, ob ihre Kinder durch die Familie, d. h. bei Verwand­ten auf dem Land, oder mit der Klasse ausge­la­gert werden sollten. Einige Zahlen zum Umfang der Aktion: Rund 7000 Schüler waren von der Evaku­ie­rung befreit, vor allem aus gesund­heit­li­chen Gründen; man unter­rich­te­te sie in spezi­el­len Sammel­schu­len in der Stadt. Von den 40.310 Verschick­ten wurden mehr als die Hälfte, nämlich 26.240 von Verwand­ten aufge­nom­men, die übrigen 14.070 lebten überwie­gend in Pflege­fa­mi­li­en. Ledig­lich 1.800 Jungen und Mädchen fanden Platz in Lagern. (Die Angaben sind entnom­men aus: Stutt­gart im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. Marle­ne P. Hiller, 1989).

Unsere Oberschu­le Zuffen­hau­sen wurde Anfang Dezem­ber 1943 auf die Ostalb verlegt. Das Rekto­rat zog mit den Oberklas­sen nach Aalen, die übrigen Klassen wurden auf Essin­gen und Wasser­al­fin­gen verteilt. Die Schüler wurden in Privat­fa­mi­li­en untergebracht.

Auch an die Gemein­de Oberko­chen war man heran­ge­tre­ten. Der Ort hatte damals etwas mehr als 2.000 Einwoh­ner, aber er verfüg­te mit dem Bergheim, das kurz vor dem Krieg für die Hitler­ju­gend errich­tet worden war, über eine Anlage, die für ein KLV-Lager wie geschaf­fen schien. Die Aufnah­me von evaku­ier­ten Kindern konnte nicht abgelehnt werden, trotz­dem dauer­te es seine Zeit, bis alles für den Einzug der Schüler bereit war. Die für Oberko­chen bestimm­te Klasse wurde daher als letzte der Schule ausgelagert.

Im Januar 1944 traf unsere 1a mit dem Lehrer Eugen Neth in Oberko­chen ein. Die 40 Buben, die nun mit Sack und Pack ins Bergheim polter­ten, waren zwischen elf und zwölf Jahre alt. Sie kamen aus den Stutt­gar­ter Voror­ten Zuffen­hau­sen und Stamm­heim oder aus der Nachbar­stadt Kornwest­heim. Für sie war das ehema­li­ge HJ-Heim von nun an das KLV-Lager Wü/106. Warum man gerade uns ausge­wählt hatte, weiß ich nicht. Es hing wohl mit der markan­ten Persön­lich­keit unseres Klassen­leh­rers zusam­men. Die Verant­wort­li­chen brauch­ten in Oberko­chen einen Mann, der, weitge­hend auf sich allein gestellt, alle Fächer unter­rich­ten konnte und sich von den Lausern nicht auf der Nase herum­tan­zen ließ, ihnen aber auch, gerade vor dem unerfreu­li­chen Hinter­grund der Evaku­ie­rung, einen Hauch von Nestwär­me vermit­teln konnte. Eugen Neth war damals 60 Jahre alt, aber unter allen Lehrern, die ich noch kennen­lern­te, war keiner, den ich mir an seine Stelle gewünscht hätte. Das würde heißen: ausge­wählt hatte man den Lehrer Neth — wir waren eben seine Klasse. Erstkläß­ler, also im fünften Schul­jahr. Darin mußte die Schul­lei­tung keinen Nachteil sehen, im Gegen­teil, die Kleinen waren sicher leich­ter zu bändi­gen als Fünft- oder Sechstkläßler.

Entlas­tet wurde der Lager­lei­ter durch den LMF, den Lager­mann­schafts­füh­rer, den uns die Hitler­ju­gend zugeteilt hatte; die HJ war nach dem Willen der NSDAP für die »erzie­he­ri­sche Betreu­ung« der Lager zustän­dig. Doch im Lager­all­tag begeg­ne­te uns der LMF eher als Neths verlän­ger­ter Arm. Es war seine Triller­pfei­fe, die uns früh um sieben weckte. Es war sein kriti­sches Auge, das Betten, Schlaf­räu­me und Spinde inspi­zier­te. Und er war es auch, der die mannig­fa­chen »Diens­te« organi­sier­te, zu denen man reihum einge­teilt wurde. Die fegten Räume und Flure, karrten Lebens­mit­tel heran und machten sich in allen Berei­chen des Lager­le­bens nützlich. Am belieb­tes­ten war der Küchen­dienst, ganz einfach deshalb, weil sich die Kamera­den gern in der Küche herum­drück­ten. Weniger beliebt war der Klodienst, er galt als niede­re Arbeit und hatte den Charak­ter eines Strafdienstes.

Unserem umfang­rei­chen Haushalt stand eine Wirtschafts­lei­te­rin vor, und in der Küche sorgten vier junge Frauen dafür, daß wir jeden Tag drei Mahlzei­ten bekamen.

Den meisten von uns fiel es nicht allzu schwer, sich im Lager einzu­le­ben. Man gewöhn­te sich daran, daß man ohne Mami zurecht­kom­men mußte. Man lernte, seine Falle so zu bauen, daß der LMF nichts zu beanstan­den hatte, wie man überhaupt bemüht war, nicht unange­nehm aufzu­fal­len. Aber wir lebten auch mit dem Heimweh und der Sorge um die Angehö­ri­gen, die den Bomben ausge­setzt waren. Wenn wir von Angrif­fen auf Stutt­gart erfuh­ren, fragte unser Lehrer jeden Tag, nachdem die Post ausge­teilt war, wer noch nichts von zu Hause gehört habe. Es konnte eine Woche und länger dauern, bis der letzte von uns Nachricht hatte. Und nicht immer waren es gute Nachrichten.

Nie habe ich diesen Bunten Nachmit­tag verges­sen. Wir saßen im Speise­raum, unter uns ein Mitschü­ler, der seit ein paar Tagen wußte, daß seine Familie ausge­bombt worden war. Plötz­lich ging die Tür auf, seine Mutter kam herein, stürz­te auf ihren Jungen zu und schloß ihn weinend in die Arme, als ob sie ihn erdrü­cken wollte. »Wir haben keine Heimat mehr!« rief sie verzwei­felt. Die anderen saßen daneben wie die Ölgöt­zen. Jeder wußte, daß es morgen ihn und die Seinen treffen konnte.

Auch Oberko­chen blieb nicht von Flieger­alar­men verschont, wohl aber von Angrif­fen. Für Lancas­ter-Bomben war der kleine Ort kein lohnen­des Ziel, und das Zeital­ter der Tiefflie­ger war noch nicht angebro­chen. Wir saßen nachts nur ab und zu im Luftschutz­kel­ler und warte­ten gelas­sen auf die Entwar­nung. Bei Vorent­war­nung durfte man den Keller verlas­sen, aber noch nicht zu Bett gehen. In klaren Nächten nahm uns Neth mit auf die Wiese hinter dem Haus und erklär­te uns den Sternen­him­mel. Und nie versäum­te ich, meine Sehschär­fe zu überprü­fen, indem ich im Großen Bären das »Reiter­le« suchte.

Morgens um acht saßen wir im Klassen­zim­mer. Wir hatten einen guten Lehrer, bei dem »man etwas lernte«. Um zwölf waren wir erschöpft, nicht durch Lange­wei­le, sondern infol­ge Anspan­nung. Kein Wunder, daß alle sich erlöst fühlten, wenn der Ruf: »Dinner is ready!« erklang, was auf die Diszi­plin durch­aus abträg­lich wirkte. Mehr als einmal mußte Neth daran erinnern, daß die Stunde erst vorbei sei, wenn er sie beendet habe, nicht etwa dann, wenn »irgend­ein Volks­ge­nos­se« verkün­de, daß es was zu beißen gebe.

Nachmit­tags war im Klassen­zim­mer von zwei bis vier »Arbeits­zeit«, wo wir, durch die Anwesen­heit des Lehrers zu Ruhe und Ordnung genötigt, das erledig­ten, was daheim Hausauf­ga­ben gewesen wären. Die berühmt-berüch­tig­te Frage: »Hast du Mathe gemacht?«, mit der man sich in späte­ren Zeiten morgens häufig begrüß­te, habe ich in Oberko­chen nie gehört.

Schön waren die langen Winter­aben­de, die uns unser Lehrer mit Vorle­sen verkürz­te. Sozusa­gen als Gutenacht­ge­schich­ten lernten wir den »Rulaman«, die »Biene Maja« und das »Dschun­gel­buch« kennen, aber auch Mörikes »Stutt­gar­ter Hutzel­männ­lein« und Richard von Volkmann-Leanders »Träume­rei­en an franzö­si­schen Kaminen«.

Siegfried Härer, Kornwestheim

Oberkochen

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte