Erinne­run­gen an eine Kindheit im Haus Nr. 19
Im Winter war das Schul­zim­mer im Erdge­schoß links vor dem Beginn des Unter­richts aufzu­hei­zen. Meine Mutter war wieder selbst­ver­ständ­lich daran betei­ligt. Der Schul­raum, vor allem in der Zeit der evange­li­schen Ein-Klassen­schu­le, war vergleich­bar mit der Werkstatt im Hause eines Handwer­kers. Der Lehrer und seine Frau hatten auch die Aufga­ben des Hausmeis­ters zu verse­hen. Der Raum, zu dem auf der gegen­über­lie­gen­den Seite des Hausflurs ein kleines Bürozim­mer gehör­te, hatte durch die Zimmer­lin­den, die mein Vater liebe­voll pfleg­te, eine freund­li­che Ausstrah­lung. Ich durfte ihn als Kind aller­dings nur in Beglei­tung betre­ten und empfand dabei Scheu vor seiner amtli­chen Würde. Ähnlich erging es mir im Arbeits­zim­mer meines Vaters, das oben in der Wohnung auf der rechten Seite des Hauses lag. Wenn er nicht da war, setzte ich mich gerne hinein und beobach­te­te die Fliegen, die um die Lampe kreis­ten. Die Lampe war eine grün-gelb-schim­mern­de Glasku­gel. Ich bilde­te mir ein, wie ein Hirte die Fliegen zu hüten und glaub­te, ihnen Anwei­sun­gen geben zu können.

Das Haus hatte auch fremde, unheim­li­che Bezir­ke. In der Scheu­ne stand der Leichen­wa­gen, eine schwarz­la­ckier­te Holzkon­struk­ti­on, mit einem an den Seiten offenem Balda­chin, mit silbern glänzen­den Ornamen­ten und Engelsköpfen.

Wenn ich als Kind, etwas im Keller holen mußte, stieg ich langsam, Angst­ge­füh­le unter­drü­ckend, die Treppe hinun­ter, die mir wie ein Schacht zur Unter­welt vorkam. Es war kühl und roch nach Erde; im Keller selbst vermisch­te sich der Erdge­ruch mit dem appetit­an­re­gen­den süßsauren Duft, der vom Sauer­kraut­faß in der hinte­ren Ecke ausging. Während des Krieges war unser Keller wegen seines tiefge­le­ge­nen Gewöl­bes als Luftschutz­raum ausge­wie­sen. In den Nächten, als die Bomber­ver­bän­de der Alliier­ten das Dorf überflo­gen, wurden wir durch die Sirene geweckt und stiegen fröstelnd nach unten. Neben dem Sauer­kraut­faß stand jetzt, ein hölzer­nes Notklo­sett, mit einem Eimer im Innern. Ich hatte meist ein Stück trocke­nes Brot dabei und kaute daran, während Frau Winter, die Bäuerin vom Nachbar­hof, einen Rosen­kranz betete. Ich wäre am liebs­ten nach draußen, über den Hof in die Felder gegan­gen, um zu sehen, was sich am Himmel abspielt. Das dumpfe ferne Gedröhn der Bomber, das geduck­te Abwar­ten unter der Erde — es schien mir bedroh­li­cher als die offene Konfron­ta­ti­on, Auge in Auge mit der Gefahr, in der man erken­nen kann, was auf einen zukommt. Manch­mal habe ich noch heute, wenn ich nachts aufwa­che und nicht gleich wieder einschla­fen kann, den Geschmack des Bauern­brots im Munde, das mir Frau Winter gelegent­lich zusteck­te, wenn ich in der Abend­däm­me­rung zu ihr geschickt wurde, um Milch zu holen — im Krieg mußte das heimlich gesche­hen. Eine direk­te Abgabe von Lebens­mit­teln war den Bauern verboten.

Oberkochen

Direkt am Haus gab es für die Kinder einen wenig gesicher­ten Auslauf. Der Hinter­hof, schmal und spärlich mit Gras und Brennes­seln bewach­sen, schloß zur Rechten mit einer Holzhüt­te auf gemau­er­tem Unter­grund ab. Genera­tio­nen von Schüle­rin­nen und Schülern waren dort notge­drun­gen aus- und einge­gan­gen. Die Hütte verström­te einen spezi­fi­schen Stall­ge­ruch, der durch keine Wasser­spü­lung oder ähnli­che sanitä­re Einrich­tun­gen verfälscht wurde. Es handel­te sich nicht um ein WC und nicht um eine Toilet­te, sondern es war — das ältere schwä­bi­sche Wort ist hier unver­meid­lich — ein Scheiß­häus­le. Neben seiner eigent­li­chen Bestim­mung war es aber zum Versteck­spie­len gut geeig­net und ist von meinen Spiel­ka­me­ra­den und mir so auch ausgie­big genutzt worden.

Der mundart­li­che Begriff paßt übrigens auch für die entspre­chen­de Einrich­tung in unserer Wohnung im ersten Stock. Es war ein schma­ler Raum, vom Flur aus links hinten zugäng­lich. An der Außen­wand, unter dem Fenster, befand sich ein Holzkas­ten, der die ganze Breite des Raumes einnahm. Ein mit Holzknopf als Handgriff verse­he­ner runder Holzde­ckel schloß eine Röhre ab, die in die Tiefe des Hauses hinab­reich­te. Der Blick an der schwarz­glän­zen­den Röhren­wand entlang verlor sich im Dunkel des Erdschach­tes. Es war die Fallhö­he, die Reinlich­keit bewirk­te, eine Entsor­gung per Schwer­kraft, die auf Nachhil­fe von Wasser verzich­ten konnte.

Der Dachbo­den, auf dem Entde­ckun­gen zu machen waren und uralter Hausrat, u.a. ein intak­tes Spinn­rad, unter einer dicken Staub­schicht lager­te, war zu zwei Dritteln begeh­bar. Ich hatte später, etwas ab meinem fünften Lebens­jahr, dort einen Platz zum Basteln. Es war das Reich der Spinnen verschie­de­ner Art und Größe. Ihre kunst­voll in der Nähe des Dachfens­ters aufge­spann­ten Netze waren oft leer und die Spinnen deshalb in versteck­ter Lauer­stel­lung. Weniger gedul­dig als die Spinnen selbst, fing ich anders­wo Fliegen, brach­te sie in die Nähe der Netze und beobach­te­te stunden­lang die Aktivi­tät der Spinnen im Umgang mit ihrer Beute.

Ging man vom Eingang zur »Bühne« weiter nach rechts, wurde der Dachbo­den brüchig. Genau über dem Leichen­wa­gen klaff­te in den Bohlen ein von Split­tern umsäum­tes Loch unbestimm­ter Herkunft. An bauli­che Sicher­heits­be­stim­mun­gen dachte zu jener Zeit niemand.

Der Schul­raum im Erdge­schoß, in dem auf das Leben vorbe­rei­tet wurde — und der Pferde­wa­gen für die letzte Fahrt in der Scheu­ne: Anfang und Ende fanden sich unter einem Dach. Das Haus in der Kirch­gas­se 19 machte mit dem Gang der mensch­li­chen Dinge früh vertraut.

Prof. Dr. phil. Hermann Braun

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte