Durch freund­li­che Vermitt­lung von Frau Ursula Braun hat deren Bruder, Prof. Dr. phil. Hermann Braun, Biele­feld, der an der Kirch­li­chen Hochschu­le in Bethel einen Lehrstuhl für Philo­so­phie innehat, den folgen­den Bericht, dessen Fortset­zung als Bericht 252 in BuG vom 13.10. erschei­nen wird, für den Heimat­ver­ein und die inter­es­sier­ten Bürger Oberko­chens verfaßt.

Oberkochen

Hermann Braun, geb. 1932 und ab 1934 in der Aalener Straße 19, heute »Schil­ler­haus«, wohnhaft, studier­te ab 1952 in Tübin­gen und Heidel­berg Deutsch, Geschich­te und Englisch, und promo­vier­te dann in Philo­so­phie. Seine Schwes­ter Ursula, geboren 1937 in Oberko­chen, wohnt hier. Die Eltern von Hermann und Ursula Braun sind das vielen Oberko­che­nern noch wohlbe­kann­te Lehrer­ehe­paar Braun, die das Gebäu­de Aalener Straße 19 bis 1965 bewohn­ten. Lehrer Gottlob Braun veröf­fent­lich­te viele natur­kund­li­che Beiträ­ge im Amtsblatt »Bürger und Gemein­de«. 1953 wurde Gottlob Braun Oberleh­rer, 1954 Konrektor.

Prof. Hermann Braun hat seinen Beitrag unter den Titel gestellt:

Als die Aalener Straße noch Kirch­gas­se hieß
Erinne­run­gen an eine Kindheit im Haus Nr. 19

Wir veröf­fent­li­chen den Beitrag im Hinblick auf die Veran­stal­tung des Heimat­ver­eins im Rahmen des Städti­schen Programms »Senio­ren im Schil­ler­haus« am Donners­tag, 26. Oktober 1995, zu der wir schon heute herzlich einladen.

Als die Aalener­stra­ße noch Kirch­gas­se hieß
Erinne­run­gen an eine Kindheit im Haus Nr. 19

Nicht immer ist der Geburts­ort, der im Perso­nal­aus­weis steht, auch unser Heimat­ort. Das Geburts­da­tum ist für unser persön­li­ches Erinne­rungs­ver­mö­gen unerreich­bar. Es ist ein amtli­cher Tatbe­stand, mit dem unser Leben für Andere beginnt. Das erinner­te Leben fängt später an.

In meinem Fall um das Jahr 1935 in Oberko­chen. Anno 1932 in Freuden­stadt geboren, bin ich objek­tiv ein Schwarz­wäl­der. Meiner persön­li­chen Erfah­rung nach aber ist meine Heimat die Ostalb und ich fühle mich als Oberko­che­ner. Bei alltäg­li­chen Vorlie­ben und Bedürf­nis­sen, die sich unwill­kür­lich einstel­len, bin ich aller­dings — im Sinne jener doppel­ten Herkunft — ein Zwitter­we­sen. Wenn es ums Essen geht, entschei­de ich mich gerne für Schwarz­wäl­der Schin­ken, wenn es ums Trinken geht, frage ich nach einem Rotwein aus dem Remstal. Und beide Genüs­se empfin­de ich immer als eine beson­de­re Wohltat.

Die ersten Bilder, die ich beim Zurück­tas­ten in meine frühe Kindheit zu errei­chen vermag, sind aber allein mit dem heuti­gen Schil­ler­haus verbun­den. Die Erinne­rung bietet ja keine Chronik der Ereig­nis­se, sie läuft nicht wie ein Film ab. Es sind einzel­ne, mehr oder weniger prägnan­te Bilder, die uns einfal­len und die wir rückbli­ckend ergänzen.

Ich berich­te, was mir gegen­wär­tig ist.

Ich sehe mich zuerst am Fenster im ersten Stock, über der Haustür. Unter dem Fenster stand immer ein Stuhl. Meine Mutter hatte die Gewohn­heit, sich mit dem Strick­zeug oder einem Buch dorthin zu setzen, wenn sie mit der Hausar­beit fertig war — und wenn ich wollte, nahm sie mich hoch und ließ mich hinausschauen.

Der Blick nach draußen auf die Straße und auf die Nachbar­häu­ser war vergnüg­lich, oft aufre­gend, nie langwei­lig. Ich weiß noch, wie ich mit Mühe und dem Fußsche­mel als Zwischen­sta­ti­on, allein auf den Stuhl zu kommen versuch­te. Um das Fenster zu errei­chen, mußte ich auf dem Stuhl knien. Schräg gegen­über lag die Werkstatt vom Wagner Holz. Man konnte von unserem Fenster aus beobach­ten, wie allmäh­lich ein großer Leiter­wa­gen entstand, der für die Landar­beit mit einem Ochsen­ge­spann gebraucht wurde. Eigen­hän­dig, im Ein-Mann-Betrieb, stell­te er die Einzel­tei­le her. In seiner Werkstatt befan­den sich eine Band- und eine Kreis­sä­ge, beide von einem alten Elektro­mo­tor über eine Trans­mis­si­ons­an­la­ge angetrie­ben. Mit diesen Maschi­nen schnitt er die Hölzer grob zu. Ihre endgül­ti­ge Form gab er ihnen mit dem Beil. Als Schul­kind habe ich viele freie Nachmit­ta­ge in seiner Werkstatt zugebracht und staunend verfolgt, mit welcher Geschick­lich­keit er seine Beile zu handha­ben verstand.

An Festta­gen gab es vom Fenster aus die Umzüge von Verei­nen zu sehen, mit Blasmu­sik, an Fronleich­nam die große Prozession.

Oft ging der Kikeri­ki-Hans unten auf der Straße vorbei, eines der Alt-Oberko­che­ner Origi­na­le. Er hatte den Spitz­na­men bekom­men wegen seiner hohen Stimme, die sich schrill überschlug, wenn er von den Kindern gehän­selt wurde. Sein weibli­ches Gegen­stück war die Pauli­ne, die stets mehre­re Röcke überein­an­der trug und der die Kinder nachrie­fen: »Pauli­ne, die Hos guckt vor!« Worauf sie vorwurfs­voll das Unrecht hinaus­schrie, das ihr wider­fuhr: »I han doch gar koina an!« Das Fenster war für mich das, was für die Kinder heut der Bildschirm ist — eine Art von Lokal-Fernse­hen, mit dem Vorzug freilich, daß es den Blick nicht auf Bilder, sondern auf das wirkli­che Gesche­hen freigab. Der Übergang vom Zuschau­en zum Mitma­chen war jeder­zeit möglich und brach­te Zuwachs an Erfah­rung. So wollte ich einmal, auf der Straße spielend, die Pauli­ne freund­lich grüßen. Sie reagier­te wütend und ich war zutiefst erschro­cken. In vielen Jahren an das Spott­ri­tu­al gewohnt, war sie nicht in der Lage, den Gruß eines Kindes unbefan­gen aufzu­neh­men oder gar zu erwidern — es konnte in ihren Augen nur eine höhni­sche Varian­te sein, die eine entspre­chend aggres­si­ve Antwort verdien­te. Meine Mutter verließ öfter den Fenster­platz, provo­ziert durch das, was zu sehen war. Gelegent­lich ermahn­te sie den Nachbarn Winter, seine Ochsen gründ­li­cher zu putzen, wenn sie an ihren Hinter­tei­len schwarz-grün Verkrus­te­tes erspäh­te. Die Ochsen blick­ten darauf­hin gleich­mü­tig drein wie immer. Der Bauer sah kurz auf und grummel­te etwas vor sich hin: mißmu­tig, aber nicht ohne Respekt.

Ende der dreißi­ger, Anfang der vierzi­ger Jahre, als meine Schwes­ter Ursula (geboren 1937) in entspre­chen­dem Alter war, mußten wir uns den Fenster­platz teilen. An schul­frei­en Vormit­ta­gen war das konflikt­voll. Wir beide dräng­ten ans Fenster, um auf die Brief­trä­gern, Frau Wingert, zu warten, die mit ihrem zweiräd­ri­gen Karren den Gang durchs Dorf machte. Seine eisen­be­schla­ge­nen Holzrä­der hörte man schon von weitem auf dem Straßen­pflas­ter rattern. Was für eine Enttäu­schung, wenn der Wagen nicht haltmach­te. Was für eine Spannung, wenn die Holzgrif­fe mit den eiser­nen Schutz­bü­geln auf das Pflas­ter nieder­gin­gen und der Wagen mit einem schlei­fen­den Geräusch zum Stehen kam. Die Spannung erreich­te ihren Höhepunkt, wenn Frau Wingert den Deckel vom Paket­kas­ten aufhob, der wie eine Truhe auf Rädern aussah. Ein Paket von der Großmutter oder dem Paten­on­kel aus Bad Cannstatt womög­lich? »Sie hat aufge­macht — sie kommt …«!

Was mir bis heute nachgeht, sind die Bilder, die Gerüche, die Töne aus der Weihnachts­zeit: die erleuch­te­ten Fenster am gegen­über­lie­gen­den Hause der Familie Hug — das Schat­ten­spiel auf den Vorhän­gen ließ die Vorbe­rei­tun­gen auf den Heili­gen Abend erahnen — und im Schnee das Knirschen von Stiefeln, dazwi­schen ein Kling, Glöck­chen, Klinge­lin­ge­ling … Es waren Knecht Ruprecht mit der Rute und der Heili­ge Nikolaus mit dem Bischofs­stab. Wenn ich mich auf diese Erinne­rung konzen­trie­re, ist es, als könnte ich die Schnee­luft spüren, die durchs offene Fenster kam und das aufge­reg­te Schwan­ken zwischen der Sorge um Bestra­fung durch den Knecht und der Vorfreu­de auf die Besche­rung durch den Nikolaus.

Ungefähr gleich weit zurück wie diese Situa­tio­nen am Fenster reicht ein Bild aus dem Wohnungs­in­ne­ren. Aufge­regt und fahrig halte ich mich an den weißen Gitter­stä­ben meines Kinder­bet­tes fest. Die Vorhän­ge am Schlaf­zim­mer­fens­ter, das auf der Giebel­sei­te zum Bauern Winter hin gelegen ist, sind halb zugezo­gen. Rechts neben der Tür sehe ich den schmie­de­ei­ser­nen Ofen. Die untere Heizklap­pe ist rötlich getönt von der Hitze. Auf dem Ofen steht die Wasser­kan­ne mit ihrem geschwun­ge­nen Schna­bel. Über mein Bett beugt sich Schwes­ter Aspedia, mit bürger­li­chem Namen Walpur­ga Maurer, von allen nur »D’Schwestr« genannt. Ein Arzt wurde damals im Dorf nur in äußers­ten Notfäl­len gerufen. In der Diagno­se durch Erfah­rung sicher, vertraut mit den familiä­ren Umstän­den ihrer Patien­ten und mit einem reichen Reper­toire von Hausmit­teln und Medika­men­ten, die sie in langen Jahren der Kranken­pfle­ge erprobt hatte, war die Schwes­ter akade­misch erwor­be­ner ärztli­cher Kunst­fer­tig­keit mehr als gleich­wer­tig. Die kalten Umschlä­ge, die sie mir anleg­te, senkten das Fieber. Meine Mutter war beruhigt. Im Hinaus­ge­hen hörte ich die Schwes­ter sagen: »Machen sie nachher nochmal Umschlä­ge und legen Sie im Ofen nichts mehr nach«.

Nichts mehr nachle­gen! Dabei wird mir bewußt, wie der Tages­ab­lauf durch die mit Heizen verbun­de­ne Arbeit bestimmt war — nicht nur im Herbst und Winter. Jeden Morgen war in der Küche der Herd anzuhei­zen. Neben dem Herd stand die große Holzkis­te mit Zwischen­wand. Auf der linken Seite die Späne zum Anfeu­ern, auf der rechten die Schei­te und Briketts fürs Dauer­feu­er. Rechts auf dem Herd war der Warmwas­ser­be­häl­ter, der nach unten, schwärz­lich verrußt, ins offene Feuer hinein­rag­te. Die Öffnun­gen auf der Herdplat­te, mit den konzen­tri­schen Eisen­rin­gen, die mit einem Haken heraus­zu­neh­men oder einzu­set­zen waren, je nach der Größe der Kochtöp­fe. Auf dem Stiegen­ab­satz zum Dachbo­den hinauf stand eine Badewan­ne. Am Wochen­en­de wurde sie in die Küche herun­ter­ge­holt und mit dem auf dem Herd berei­te­ten heißen Wasser nach und nach aufgefüllt.

Prof. Dr. phil. Hermann Braun

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