Im letzten Bericht (240 v. 21.4.95) erwähn­ten wir das Kriegs­ta­ge­buch des Oberko­che­ner Solda­ten Willi­bald Grupp (geb. 1915). Herr Grupp war so freund­lich, für uns aus diesem Tagebuch eine Kurzfas­sung der letzten Kriegs­ta­ge zusam­men­zu­stel­len — so wie er sie erlebte.

Vorab veröf­fent­li­chen wir das Blatt 32 des Kriegs­ta­ge­buchs im Origi­nal­wort­laut. Es stammt vom Januar 1945 und vermit­telt einen Eindruck davon, unter welchen extre­men Bedin­gun­gen der Rückzug aus Monte­ne­gro ablief.

Dietrich Bantel

Oberkochen

Anfang Januar 1945
Das Glatt­eis verschärft sich, die Schin­de­rei wird ärger, die Nächte elendi­ger.
Bei Priboyj verlas­sen wir das gelob­te Land Monte­ne­gro und betre­ten voller Heimat­hoff­nun­gen das nächs­te Paradies.

Bosni­en im gewese­nen Kroati­en.
Wegen Flieger­ge­fahr muß bei Nacht marschiert werden, gebirgs­auf, gebirgs­ab, und bei Tag hat man sich zu tarnen. Des Nachts bei Glatt­eis auf Gebirgs­stra­ßen mit müden Knochen zu turnen ist, wie ich schon oft sagte, eine Tierquä­le­rei! Der Schlaf reißt an den Geplag­ten rücksichts­los herum, Läuse piesa­ken die schmut­zi­gen Häute, Pferde stürzen, selbst hauts einen um, Wagen rutschen, Geschüt­ze schlei­fen wie geölte Blitze über die Straße herun­ter, kippen um, und die Landser haben den Scheiß­kar­ren auf die Straße zu schin­den. In Visegrad errei­chen wir die erste Bahnli­nie, sie funktio­niert sogar. Geschüt­ze und Muniti­on werden verla­den. Saraje­wo, die Stadt unserer Verhei­ßung, noch 100 km. Visegrad ist schnee­frei, 220 m hoch, an der Drina, zerschos­sen, zerbombt. Von Kralje­vo-Cacak stößt eine Straße her, die unser Kathri-Paul von Athen herauf bereits vor mir passiert hat. Die müden Geschütz­pfer­de werden an die restli­chen Fahrzeu­ge gespannt. Hü! Hott! Hinauf auf den 20 km langen Paß auf 1200 m. Unter­wegs erfreut uns Neuschnee. Zwischen­hin­ein am halben Weg müssen wir übernach­ten, wenn die Kolon­ne um 11 Uhr nachts nimmer kann. Drüben über dem Paß schlei­fen die schwe­ren Karren trotz Bremse auf Schnee und Eis zur Plage der Pferde und Solda­ten haltlos hin und her. Von 1200 hinun­ter auf Rogati­ca 300 m, Regen­wet­ter, hinauf zum nächs­ten Paß, 1300 m, oh du lieber Himmel! Regen, nasser Schnee, Sutte­re, nasse Häute vom Fuß bis zum Schei­tel, oben Schnee­ge­stö­ber, 1 m Schnee­tie­fe, Schwei­ne­rei, Saukäl­te, übernach­ten in der kalten nassen scheuß­li­chen Finster­nis. Dann wieder hinun­ter, feuch­ter Schnee, Schnee­fall, Schnee­matsch, nasser Schnee­fall, 25 cm tiefe Sutte­re, Regen, Hochwas­ser im Schuh­werk, nasse Schen­kel bis zum Nabel, nasser Buckel bis zum Arsch. So zwischen Mitter­nacht und 4 Uhr früh, stock­fins­ter, immer weiter­mar­schie­ren! Durchs nächs­te zerschos­se­ne Kaff, wo Hochwas­ser das Dasein versüßt. Ein paar Stunden Rast, wieder­um hinauf, der letzte 20 km lange Paß, 1500 m hoch, lädt uns ein. Früh um 8 Uhr Abmarsch, abends um 11 Uhr bleibt der Laden stehen, 1200 m hoch, im Tannen­wald, Stern­him­mel, etwa 20 Grad Kälte, zugige Luft, 1,50 m tief Schnee, mitten auf der Straße, weit und breit kein Haus oder Unter­schlupf. Gott strafe die Kriegs­schul­di­gen! Die Schlä­fer torkeln fast ins lodern­de Feuer und erfrie­ren sich gleich­zei­tig fast den Hintern. In der Frühe wird weiter­ge­wurs­telt, mit Ach und Krach über die Paßhö­he. Neben­bei die Hosen immer wieder herun­ter­ge­ris­sen, arge Darmer­käl­tung! Drüben hinun­ter-geschlit­tert, gestürz­te Pferde auflup­fen und so fort. Tagsüber­rn­arsch, nachts weiter im Text. Im Marschie­ren halte ich mich an der Wagen­rück­sei­te fest und schla­fe regel­recht, bis ich mal stolpe­re oder ansto­ße. Am 15. Januar 1945 morgens um 6 Uhr errei­chen wir Saraje­vo. 3 Tage Ruhe: Pferde pflegen, Waschen. Lausen, Flicken, Stall­dienst, heimschrei­ben, arger Durch­fall, überan­streng­te Pferde veren­den im Stall, von 112 Pferden in Tirana haben wir noch 48 Wracks, Wagen umladen, 25 % der Männer müssen ins Lazarett, fußkrank, Frost­schä­den, krank. Am 18. Januar wird der Trauer­marsch fortge­setzt, das Bosna-Tal abwärts, täglich etwa 20 — 25 km, etwa 1,20 m Schnee, klirren­der Frost, etwa 2,5 km pro Stunde werden geschafft, verfluch­te Quäle­rei! So manches Pferde­gu­lasch wird in der Feldkü­che zuberei­tet. Zenica, Zebce, Doboj, Parti­sa­nen­spuk, Derwen­ta, Brod sind die Kreuz­weg­sta­tio­nen. 6 Wagen und 12 arme Kloben sind der stolze Rest; wie sie traurig drein­schau­en! Brod ist von 4‑motorigen Bombern umgeackert, gottlob hats z. Zt. kein Flieger­wet­ter. Wir rumpeln über die etwa 200 km breite Save (Ponton­brü­cke). Großes Aufat­men, doch du großer Schreck: »Rechts geschwenkt Marsch!«, der etwa 80 km entfern­ten Russen­front näher! Schon wieder Parti­sa­nen­ge­fahr! Am 28. Januar haut mir unter der Fahrt nachts um 4 Uhr ein Gaul (wir hatten von Bauern für je 20 km Pferde und Fahrer gemie­tet) das rechte Knie auf, daß ich für die nächs­ten 14 Tage nimmer gehen brauch­te Djako­vo, Nasice ist unser Auffri­schungs­raum. Zurück­ge­blie­be­ne Kamera­den kommen nach und Genese­ne aus der Heimat, den slavo­ni­schen Bauern requi­rier­te Pferde — alles wird geputzt, gut gefüt­tert, geflickt, gewaschen, die zerschun­de­ne Restdi­vi­si­on für neue Taten einsatz­fä­hig gemacht. Russen­front an der Drau.

Die Heimkehr des Odysseus
Willi­bald Grupp, Angehö­ri­ger der bespann­ten 3. Batte­rie des Artil­le­rie-Regiments 297:
Dank eines Granat­split­ters vom elenden Unter­gang in Stalin­grad erret­tet — Ende 44 heißer Rückzug aus Tirana/Albanien — Winter­elend, Mann und Roß schin­den Geschütz und Wagen über meter­tief verschnei­te, vereis­te, bis 1500 m hohe Paßstra­ßen in Monte­ne­gro — Mitte Januar 45 drei Tage Saraje­wo — vergeb­li­cher Drau-Brücken­kopf in Richtung Platten­see — eisen­hal­ti­ge heiße Ostern — und rennen, durchs Feuer hindurch, der Schweiß treibt von innen, die Russen von hinten, der Schnau­fer geht fast nimmer, die Knie schnackeln — 7 Jahre Uniform sind voll — der zerschun­de­ne Haufen sammelt sich wieder, einige Kamera­den fehlen. Bei Nacht abset­zen, marschie­ren, in der Frühe in Stellung fahren, B‑Stelle (Beobach­tungs­stel­le) bezie­hen und so fort. Im Bergland zwischen Mur und Drau, (Raum Marburg/Drau) vertei­di­gen wir uns hartnä­ckig, ich bin zur Infan­te­rie auf V.B. (vorge­scho­be­ner Beobach­ter) befoh­len. Der Russe überschüt­tet uns kriegs­lah­me muniti­ons­ar­me Kämpfer mit Trommel­feu­ern. Sehr viele Ausfäl­le gibts. Wir werden mit bluten­den Köpfen Schritt für Schritt zurück­ge­boxt. Herrli­chen Wein gibts allda! Doch ein Weinrausch könnte den Tod bedeu­ten. Arg wüst geht es zu. Des öfteren werde ich blutver­schmiert; mein Fernglas muß ich einmal von Hirnmas­se reini­gen — ich hatte es kurz ausge­lie­hen. Bei Bad Radein erfah­ren wir, daß der berühm­te Adolf Hitler tot ist, daß Berlin von den Russen erobert wird, daß der AMI bereits in Bayern steht, 1. Mai 45, daß . . Wir trinken aller­bes­ten Weißwein, essen gut, meine V.B.-Stellung an der Mur beim Volks­sturm aus Cilli (südlich Marburg in Slowe­ni­en) ist ruhig. In der Nacht vom 7. zum 8. Mai sind wir in die letzte Stellung unterwegs.

Am 8. Mai 1945 um 11 Uhr erfah­ren wir, daß die Südost­ar­mee dem Ami gegen­über kapituliert.

Waffen nicht wegwer­fen! Truppe sammelt sich und marschiert kriegs­mä­ßig gen Westen, Restkom­man­dos bleiben am Feind. Es gilt die von Itali­en kommen­den briti­schen Spitzen zu errei­chen. Die Lage ist unklar: Tito-Kamera­den in Marburg zur Linken und rechts die lieben Russen. Bei Spiel­feld errei­chen wir das alte neue Öster­reich. An der Russen­front wummert es noch ganz hübsch. Nur weg von hier! In Leibnitz schwen­ken wir nach links ins Gebir­ge hinein. Die Divisi­on hat Funkver­bin­dung mit den Englän­dern: »Die deutsche Kampf­grup­pe ist der briti­schen 6. Panzer­di­vi­si­on unter­stellt.« Angrif­fe von Russen oder Parti­sa­nen dürfen mit den Waffen abgewehrt werden. Wir quälen uns über die 1400 m hohe Koral­pe; die Fahrt über die steilen, schlech­ten Gebirgs­we­ge ist eine arge Schin­de­rei. Bei Wolfs­berg, 10. Mai treffen wir die ersten Englän­der; sie sperren mit Panzern die Straßen gegen die nachdrän­gen­den Russen. Auf einem Brücken­ge­län­der sitzend erzählt uns ein Brite, daß in 14 Tagen wir gemein­sam gegen die Russen ziehen würden! (Ist der Krieg doch noch nicht aus???) — Wir marschie­ren voll bewaff­net weiter. Bei St. Leonhard fahren wir die Geschüt­ze in eine Wiese, laden Muniti­on ab, werfen Rohrver­schluß­tei­le fort und klettern wieder 1000 m höher auf 1650 m der Saual­pe. Rechts Russen, links Parti­sa­nen; hinüber­ge­schun­den! So., 11. Mai Alten­ho­fen, am 12. Mai vor St. Veit in Kärnten. Waffen abgeben, 10 % Karabi­ner behal­ten für Wache, Fahrzeu­ge und Pferde behal­ten. Der Zeltauf­ent­halt auf einem abgele­ge­nen Flurstück ist ohne engli­sche Aufsicht erträg­lich. Bei kleinem Arbeits­ein­satz bei den Englän­dern am Klagen­fur­ter Flugplatz werden etliche Glück­li­che (ich war auch dabei) um den ganzen Wörther See bei Sonnen­schein gefah­ren. Baden, Sport, Wandern, kleine Vorträ­ge der Offizie­re, Pferde weiden sind angeneh­me Abwechslungen.

Pferde und Wagen abgeben, Gepäck fertig­ma­chen! Den Glück­li­chen schlägt die Stunde. Ich schnap­pe auf, daß unser Entlas­sungs­ort Aalen sei!!! 17. Juni einstei­gen in den Güter­zug. St. Veit leb wohl! Zerbomb­tes Villach, Spittal, dann LKW Fahrt bis Mallnitz. 1200 m hoch,11 km langer Tauern­tun­nel, herrli­che Bergwelt, Salzbur­ger Land, der Ami übernimmt uns, Rosen­heim, München, total zerbomb­tes Ulm. Inmit­ten der zertrüm­mer­ten Altstadt ragt fast unver­sehrt das Münster in den Himmel; vom Bahnhof sieht man nicht einmal die Grund­mau­ern mehr. Hier wird schwä­bisch gespro­chen! Über die Alb nach Geislin­gen, Göppin­gen; ausstei­gen. In Plochin­gen-Stutt­gart hausen die Franzo­sen, kassie­ren alle Männer, hören wir, auch, wenn sie vom Ami entlas­sen worden seien. Sakra, Sakra! Noch irgend­wie ausrü­cken? In einem Obstgar­ten wird übernach­tet. Daneben grell erleuch­te­te streng bewach­te Zelte, SS-Gefan­ge­ne sind es. Gegen 10 Uhr auf Lastwa­gen klettern, 50 Mann pro Lkw. Ich sitze vorne links auf dem Kotflü­gel. Domdorf, Rechberg, Gmünd, Aalen, Ahoi! Wasser­al­fin­gen, Werks­ge­län­de von Alfing. In der Gieße­rei des Hütten­werks wird ein letztes mal übernach­tet. 11 Uhr Marsch zur Aalener Remon­te bei Bratofen­hit­ze und sauschwe­rem Rucksack, 2 Stunden Entlassungsformalitäten.

Frei! Entlas­sen!!

Heim zur Braut, zur Mutter! Von guten Bekann­ten kann ich ein Leiter­wä­ge­le leihen, werfe Rucksack darauf, ziehe den Uniform­kit­tel aus, kremp­le die Hemds­är­mel hoch und marschie­re was die Füße herge­ben hinauf ins Kocher­tal, heim!

20. Juni 1945

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte