Seit Wochen spiegelt sich in der Presse die 50. Jährung des Endes des 2. Weltkrieges.

Auch in unserer kleinen Stadt, damals noch eine Gemein­de mit etwas mehr als 2000 Einwoh­nern, hatte der Krieg bitte­re Spuren hinter­las­sen: Mehr als ein Zehntel der Einwoh­ner war während des Kriegs umgekom­men, laut Ortschro­nik 160 Tote und 54 Vermiß­te, Einzel­schick­sa­le, die 1000 Bücher füllen könnten. Einer der überle­ben­den Oberko­che­ner Solda­ten, Willi­bald Grupp, hat unmit­tel­bar nach dem Krieg aus Origi­nal­no­ti­zen ein detail­lier­tes persön­li­ches Kriegs­ta­ge­buch gefer­tigt, ein Dokument von unschätz­ba­rem Wert; ein Schick­sal von Millio­nen, und eines das glück­lich endete. Millio­nen endeten in ungeschrie­be­nen Katastrophen.

Wir geden­ken heute unserer 160 Toten, Fotos wurden in BuG 1963 und im Heimat­buch veröf­fent­licht, und wir geden­ken der vermißt geblie­be­nen Oberko­che­ner. Wir geden­ken der 8 Toten, die der Tiefflie­ger­an­griff auf einen Häftlings­trans­port im Oberko­che­ner Bahnhof am 1. April 1945 forder­te. Wir geden­ken der 8 Toten, die der Luftan­griff auf Oberko­chen am 11. April 1945 forder­te, und wir geden­ken der Ereig­nis­se des 24. April 1945, des Tages, an dem für Oberko­chen nach Artil­le­rie­be­schuß und Einnah­me durch die Ameri­ka­ner der Krieg zu Ende ging, 14 Tage vor dem offizi­el­len Ende des 2. Weltkriegs.

Über die letzten Kriegs­ta­ge in Oberko­chen gibt es außer der Beschrei­bung im Heimat­buch (1986) zahlrei­che Beiträ­ge in unserer Serie »Oberko­chen — Geschich­te, Landschaft, Alltag« (Berich­te 11, 16, 22, 31, 32, 36, 177, 178, 181) und Schwä­bi­sche Post vom 1.4.1995.

Heute veröf­fent­li­chen wir einen Teil aus einer Beschrei­bung der letzten Kriegs­ta­ge aus der Feder von Frau Trudl Fischer (Tochter des 1975 verstor­be­nen J.P. Fischer (»PX«), über den ein Bericht anläß­lich seines 20. Todes­ta­ges im Oktober folgt). Der sehr ausführ­li­che Bericht stammt aus dem Jahr 1986 und ging mir damals im Zusam­men­hang mit meinen Nachfor­schun­gen zum »III. Reich in Oberko­chen« zu.

Herzli­chen Dank an Frau Fischer für ihre Zustim­mung für einen unver­än­der­ten Abdruck aus den Seiten 4 und 5 ihrer Darstel­lung der letzten Kriegs­wo­chen. Die Zahlen in Klammern verwei­sen auf Erläu­te­run­gen des Verfas­sers am Berichtende.

Bericht von Frau Trudl Fischer
Mein persön­li­ches Erleben der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegs­wo­chen stellt sich so dar:

Etwa zwei Wochen vor dem Tag X, nachdem wohl der letzte Nazi erkannt hatte, daß es dem Ende entge­gen ging, setzten sich Bürger­meis­ter und Ortsgrup­pen­lei­ter (1) still und heimlich ab, wohl wissend, daß ihnen nichts Gutes bevor­stand, oder vielleicht auch in der Hoffnung, daß nochmals neuer Wider­stand formiert würde.

So blieb mein Vater (2) mit anderen Bediens­te­ten auf dem Rathaus zurück und konnte nun zusehen, wie er mit allen auftau­chen­den Proble­men fertig würde. Er mußte die letzten Anwei­sun­gen für den Fall der Fälle geben und als Luftschutz­wart oblagen ihm noch zusätz­li­che Aufgaben.

Richtig ernst wurde es erstmals, als am Oster­sonn­tag (3) gegen 11 Uhr (wir standen gerade vor dem Haus) jählings franzö­si­sche Jagdflug­zeu­ge — man nannte sie »Rotschwänz­chen« — über den Volkmars­berg kommend im Sturz­flug einen im Bahnhof stehen­den Zug mit Häftlin­gen mit Bordka­no­nen beschos­sen. Da die unglück­li­chen Menschen in Panik den Zug verlie­ßen und in Richtung Rothal­de rannten, gab es natür­lich einige Tote (4). — Nun grassier­te so langsam die Angst unter der Bevöl­ke­rung. Der Tod konnte jeder Zeit von überall her kommen. Zu der Zeit war es für den damali­gen Feind nicht mehr schwer, die Menschen auf den Straßen, die Bauern auf den Feldern, wie die Kanin­chen abzuschie­ßen. (Von unserer Gemar­kung nichts bekannt). Der Zugver­kehr war beina­he lahmge­legt und die Bewegungs­frei­heit war sehr eingeschränkt.

Eine Woche nach dem Schock der ersten direk­ten Konfron­ta­ti­on mit dem Krieg schlu­gen dann die ersten Bomben in Oberko­chen ein (5). Sie sollten wohl die Rüstungs­fir­ma (6) treffen, aber die Haupt­leid­tra­gen­den waren die Famili­en Winter (Herrgotts­häf­ner) und Brunn­hu­ber. Abgese­hen vom materi­el­len Schaden waren 8 Tote zu bekla­gen (7). Das ganze Dorf trauer­te mit.

Die fremden Truppen rückten immer näher und man konnte schon von weither das Grollen der Geschüt­ze hören. Unauf­hör­lich donner­ten ameri­ka­ni­sche und engli­sche Bomber über uns und in der Nacht sah man über den Bergen den Feuer­schein der zertrüm­mer­ten Städte. Die Menschen brach­ten ihren letzten Hausrat in die Keller und sicher­ten diese mit Streben gegen Einsturz­ge­fahr ab. Jetzt wurden wir auch vom kaufmän­ni­schen Leiter des Kaltwalz­werks (8) nach Hause geschickt mit der Aufla­ge, erst wieder­zu­kom­men, wenn alles vorbei sei, und man nach uns schicken würde.

Mein Vater mußte überall mit Rat und Tat zur Stelle sein. Am 20. April kam ein Mann (9) zu meinem Vater und bestürm­te ihn, doch einen auf dem Bahnhof stehen­den Waggon öffnen zu lassen, damit man evtl. noch lebens­not­wen­di­ge Güter vertei­len könne, ehe die ameri­ka­ni­schen Truppen sie beschlag­nahm­ten. Trotz schwer­wie­gen­der Beden­ken — darauf stand immer­hin die Todes­stra­fe — nahm es mein Vater auf seine Kappe und ließ den Waggon öffnen. Der Inhalt waren viele Pakete Rollen­kaf­fee (10) halb Bohnen — halb Malzkaf­fee mit Trauben­zu­cker. Ich verstän­dig­te dann die Leute, daß sie am Bahnhof etwas abholen könnten, und die frohe Kunde verbrei­te­te sich wie ein Lauffeu­er. Und es dauer­te nicht lange, bis sie ankamen mit Leiter­wä­ge­le und Schieb­kar­ren, ja sogar mit dem Fuhrwerk, und auflu­den, was das Zeug hielt, was mein Vater und der andere Mann aus dem Waggon warfen. Zum Schluß war’s dann so, daß mein Vater im Eifer des Gefechts verges­sen hatte, auch an uns zu denken. Und wenn Nachbarn uns nicht noch ein Paket abgege­ben hätten, wären wir leer ausge­gan­gen. Man konnte diesen Rollen­kaf­fee unter anderem auch zum Kuchen­ba­cken verwen­den, und später war er auf dem Härts­feld ein wunder­ba­res Tausch­ob­jekt gegen Butter, Milch und Eier.

Am 23. April verlie­ßen die letzten deutschen Solda­ten das Dorf auf Drängen der Oberko­che­ner Bevöl­ke­rung. Vertei­di­gung wäre absolut sinnlos gewesen, und hätte nur noch unnöti­ge Todes­op­fer gefor­dert. Auch die Spren­gung der Kocher­brü­cke konnte dank des Einsat­zes meines Vaters verhin­dert werden, und die Panzer­sper­re (11) bei Wanne­netsch wurde bei Nacht von ein paar Männern wieder abgebaut, auch auf die Drohung hin, daß sie das den Kopf kosten würde. Oberko­chen hatte den Krieg satt. Oberko­chen wollte weiterleben.

Dann kam die Nacht, in der alles den Atem anhielt. »Was wird der nächs­te Tag uns wohl bringen?« war die bange Frage. — Es kam erst mal knüppel­dick. Am Diens­tag, 24. April 1945, morgens gegen 8 Uhr, hörten wir erst ein Flugzeug ununter­bro­chen über dem Ort kreisen. Dann setzte schlag­ar­tig hefti­ges Granat­feu­er ein. (12). Rings um uns (Haus hinter Gärtne­rei Mahler) gab’s Treffer. Ein Volltref­fer zerstör­te zualler­erst völlig das Haus Gold zwischen Gubi und Café Muh. Ein zweiter riß an der hinte­ren Ecke der Gärtne­rei Mahler die Veran­da herun­ter. Der Hund war unten noch angebun­den und gebär­de­te sich wie rasend, bis er sich losrei­ßen konnte. Mein Vater war noch unter­wegs, und als er während einer Feuer­pau­se daheim eintraf, rannten Nachbar Beißwen­gers um die Ecke und schrie­en »unser Haus brennt, unser Haus brennt«. Dach und Dachstuhl waren zwar stark beschä­digt, aber Gott sei Dank hatten sie im ersten Schre­cken nur den herun­ter­ge­fal­le­nen Sand und Staub für Feuer und Rauch gehal­ten. Es gab noch mehr Schäden in Oberko­chen, aber daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. (13)

Kurz nach 12 Uhr war dann plötz­lich Toten­stil­le. Darauf folgten die Geräu­sche von fahren­den Panzern. Aus dem Keller kommend war unser erstes, nach den Nachbarn zu sehen, ob auch nichts passiert sei. Glück­li­cher­wei­se hatten Mahlers den Luftschutz­stol­len nicht benutzt, den sie kurz zuvor noch gegra­ben hatten, sondern waren in den Luftschutz­kel­ler der Dreißen­tal­schu­le gegan­gen. Dort hatten auch die anderen Zuflucht gesucht und man war froh, daß sich alle heil wiedersahen.

Plötz­lich kam unser schon mal erwähn­ter Franzo­se (14) daher­ge­rannt und schrie: »Herr Fischär, Herr Fischär, wir (15) haben weiße Fahne auf Kirch­turm gehißt (16), Ameri­ka­ner sind auf dem Rathaus, kommen Sie schnell!«

Dort wurde mein Vater von einem jüdischen Verbin­dungs­of­fi­zier, der ausge­zeich­net Deutsch sprach, ziemlich kühl und herab­las­send empfan­gen und nach einem langen und ausführ­li­chen Gespräch zum provi­so­ri­schen Bürger­meis­ter ernannt (17).

Wir haben dann auch in unserer Wohnung das erste Glas Wein mit den Ameri­ka­nern getrun­ken. Ja, und dann gab’s viel zu tun, um all die Anwei­sun­gen und Verord­nun­gen der neuen Herren durch­zu­füh­ren. Die Sperr­stun­de wurde einge­führt. Von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens durfte sich niemand auf der Straße blicken lassen. Die vielen Evaku­ier­ten wollten heim, andere hatten in Aalen oder Heiden­heim zu tun, und jeder, der aus dem Dorf raus wollte, brauch­te einen Erlaub­nis­schein (18) in Deutsch und Englisch. Ich (19) hatte alle Hände voll zu tun, um diese auszu­fül­len. Alle Waffen mußten abgelie­fert werden. Durch­zie­hen­de verein­zel­te deutsche Solda­ten brauch­ten Rat und Hilfe und oft ein Stück Brot mit auf den Weg. Die ersten Flücht­lin­ge trafen ein und mußten versorgt werden. Alle Kriegs­ge­fan­ge­nen und Depor­tier­ten wurden auf dem schnells­ten Weg in die Heimat verschickt, wobei manche Leute in Oberko­chen, die sich aus guten Gründen hätten verste­cken müssen, sehr aufat­me­ten. Die ameri­ka­ni­schen Truppen durften damals noch keine Kontak­te zur Bevöl­ke­rung aufneh­men, aus Angst, sie würden in Hinter­hal­te gelockt. Zu Ausschrei­tun­gen kam es in Oberko­chen nicht.

Oberkochen

Anmer­kun­gen
( 1) Bürger­meis­ter Otto Heiden­reich, Ortsgrup­pen­lei­ter Emil Kopp
( 2) J.P. Fischer, genannt »Krimi­na­ler« oder »PX« J.P. Fischer war von 1940 — 1945 Leiter der Karten­stel­le auf dem Oberko­che­ner Rathaus. Außer­dem war er Luftschutz­wart und mit der Betreu­ung der Oberko­chen zugewie­se­nen Kriegs­ge­fan­ge­nen in der alten TVO-Turnhal­le beauf­tragt.
( 3) Oster­sonn­tag, 1. April 1945 (siehe Bericht im Heimat­buch)
( 4) Es gab 8 Tote. Die 5 unbekannt geblie­be­nen Toten wurden auf dem ev. Fried­hof beigesetzt. In alten Berich­ten wird die Zahl der Toten mit »zwischen 70 und 80« angege­ben. Der Grund ist, daß bei der Weiter­fahrt des Zuges nach dem Überfall wohl diese Zahl an Häftlin­gen fehlte. Die Diffe­renz ergibt mögli­cher­wei­se zumin­dest annähe­rungs­wei­se die Zahl der während des Angriffs zumeist über die Rothal­de Richtung Härts­feld geflüch­te­ten Häftlin­ge.
( 5) Ausführ­li­che Berich­te von Ignaz Umbrecht und Martha Gold im Heimat­buch.
( 6) Firma Fritz Leitz. Nach Demon­ta­ge wurde dort in den leerste­hen­den Räumen die Firma Carl Zeiss angesie­delt.
( 7) Marie Winter (37), There­sia Fischer (64), Josef Brunn­hu­ber (4), Paul Brunn­hu­ber (2), Bruno Winter (3), Maria Frey (15), Maria Brunn­hu­ber (20), Mathil­de Brunn­hu­ber (11). Schwer verletzt wurde Aloisia Winter.
( 8) Herr Heinz Noll, Propa­gan­da­lei­ter.
( 9) Herr Willi Spieg­ler
(10) Ausführ­li­che Beschrei­bung durch Alois und Rosa Fischer im Heimat­buch
(11) Die Panzer­sper­re hatte vom »Volks­sturm« errich­tet werden müssen. In der Familie Meroth lebt bis heute eine ergötz­li­che Varian­te zum Abbruch der Panzer­sper­re, die man sich damals erzählt hat: Die Leute vom Volks­sturm hätten nach der Errich­tung dersel­ben festge­stellt, daß sie die Fahrzeu­ge, mit denen das Materi­al angefah­ren worden war, außer­halb der Sperre, also Richtung Unter­ko­chen, abgestellt hatten. Um die Fahrzeu­ge zu »bergen«, hätten sie einen Teil der Sperre wieder aufge­bro­chen. Unter­des sei aber schon der Ami angerückt und durch die offene Sperre gefah­ren.
(12) Der Beschuß erfolg­te aus Richtung »Essin­ger Feld«, — d.h., daß zumin­dest ein Teil der Ameri­ka­ner den kurzen und unerwar­te­ten Weg über den Essin­ger »Pass« gekom­men sind.
(13) Beschrei­bung im Heimat­buch
(14) Einer der Kriegs­ge­fan­ge­nen aus der TVO-Turnhal­le, zu dem die Familie Fischer priva­ten Kontakt hatte. Auch andere Kontak­te zu betreu­ten Kriegs­ge­fan­ge­nen hielten über Jahrzehn­te
(15) Wer die »wir« außer dem Franzo­sen waren, ließ sich leider nicht mehr klären.
(16) Es muß sich um den Turm der katho­li­schen Kirche gehan­delt haben; der Turm der alten evange­li­schen Kirche wurde erst 1953 errich­tet.
Der AVZ v. 3. 4. 1995 ist zu entneh­men: »Am gleichen Tag (3. April 1945) gibt der »Reichs­füh­rer SS« Heinrich Himmler den berüch­tig­ten »Flaggen­be­fehl«, der die Deutschen zum Wider­stand und zum Durch­hal­ten um jeden Preis verpflich­ten soll. Darin heißt es unter anderem: »Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männli­chen Perso­nen zu erschie­ßen«.
Hieraus erklärt sich die Wahl des Orts »Kirch­turm = »nicht Haus«
(17) Nach wenigen Tagen wurde dann Altbür­ger­meis­ter Frank ins Amt des Bürger­meis­ters einge­setzt.
(18) »Passier­schein«
(19) damals 25 Jahre alt

Dietrich Bantel

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