Auf den Bericht vom Martha-Leitz-Haus hin (BuG v. 6.5.88) erhielt ich einen Anruf von Herrn Heinz Rodeck, — er sei gerne bereit, da hier offen­bar eine Lücke bestehe, uns zu berich­ten, wie das mit dem Martha-Leitz-Haus nach 1945 weiter­ge­gan­gen sei.

Nun ist dies eine Zeit, aus der noch heute die wildes­ten Gerüch­te kursie­ren — von »Schlach­ten« zwischen Zeiss­lern und »Altober­ko­che­nern«, von in den Kocher gescho­be­nen Mistkar­ren und von als Gegen­leis­tung auf Dächern festge­zurr­ten CZ-Fahrrä­dern .… — so konnte nichts Besse­res ins Haus flattern als dieses freund­li­che Angebot.

»Wir hatten es nicht einfach damals«, — das war der erste Satz eines länge­ren Gesprächs. — Ich kam 1947, 24-jährig, nach Oberko­chen. Sie müssen sich vorstel­len: Jena hatte 1945 ca. 60−70.000 Einwoh­ner, und Tausen­de arbei­te­ten beim Zeiss, — und nun ins Dorf. Übrigens ganz neben­bei: die Zeiss­ler in Jena gingen nicht arbei­ten, sondern sie gingen »ins Geschäft«, — sauber gerich­tet, querdurch, — der Chef war kaum vom Putzer zu unter­schei­den. Weißer Kittel und vor allem Krawat­te waren zunächst auch in Oberko­chen die belächel­ten Reste dieses Marken­zei­chens der »Zeiss­ler«.

Mir war es so gegan­gen wie vielen damals bei Zeiss/Jena: Ich wurde animiert von welchen, die schon früher, teils schon 1946, nach Oberko­chen gekom­men waren, — z.B. Fritz Hartmann und Heinz Fröhlich, — auch dorthin zu kommen; dort gebe es gute Arbeit.

Wir fuhren bis Probst­zel­la mit der Bahn, gelang­ten unter Schwie­rig­kei­ten, — im Gegen­satz zu meinen beiden Kumpeln, die mich abgeholt hatten, hatte ich ja noch keine Papie­re, die zum Grenz­über­gang berech­tig­ten, — schwarz über die Grenze nach Ludwigs­stadt und fuhren dann mit der Bahn weiter nach Oberko­chen. Man hatte uns einiges von Oberko­chen erzählt, — aber die Wirklich­keit übertraf doch das Erwar­te­te, als wir vom Bahnhof kommend im Ort über die Misthau­fen stolper­ten, müde, hungrig, auf dem Buckel einen Rucksack mit nix drin, — es regne­te, und rechts und links im Rinnstein (Kandel) floß die Gülle. Dieses Bild, den ersten Eindruck, werde ich nie verges­sen. Ich hatte mich beim Perso­nal­chef Schäff­au­er zu melden mit meinen CZ-Jena-Papie­ren. Die Anstel­lung geschah ziemlich formlos und war absolut kein Problem, — man war froh für jeden, der kam. Ich erhielt die Ausweis­num­mer 415.

Unter­ge­bracht wurden wir im Martha-Leitz-Haus, welches »knall­voll« war. Wir schlie­fen, 7 bis 8 Mann auf engstem Raum, auf ameri­ka­ni­schen Feldbet­ten im Vorraum des Badetrakts. Das Bad war für damali­ge Verhält­nis­se absolut hochmo­dern ausge­führt, bis oben hin ausge­ka­chelt, — moder­ne Armatu­ren. (An Wochen­en­den hatten dort früher die Oberko­che­ner die Wannen­bä­der benut­zen können.) Irgend­wann inter­es­sier­te uns, wie es nun eigent­lich drinnen im Bad aussieht: dort saßen die Ratten in den Kloschüs­seln; manch­mal besuch­ten sie uns auch in den Schlaf­räu­men, — wir konnten uns nicht wehren.

Es gab außer dem Martha-Leitz-Haus noch einige (5 — 6) Baracken auf dem Werks­ge­län­de der ehema­li­gen Firma Fritz Leitz, in denen zuvor Kriegs­ge­fan­ge­ne unter­ge­bracht gewesen waren; auch diese dienten zur ersten Unter­brin­gung von Zeiss­lern. Auf unserem CZ-Foto aus den 50er Jahren sind entlang der Wachol­der­stei­ge noch 3 dieser Baracken zu erken­nen. Ein letzter provi­so­ri­scher Bau aus dieser CZ-Frühzeit (Verkauf — rechter unterer Bildrand) wurde in diesem Jahr (1988) abgebrochen.

Oberkochen

Herr Rodeck fuhr dann fort: Wir hatten Hunger, daß uns der Magen knurr­te, und — ich gebe zu, das war nicht gerade vornehm von uns, und hat sicher dazu beigetra­gen, daß uns die Oberko­che­ner nicht gerade gern gesehen haben: wir gingen auf Feldbeu­te­zü­ge und klauten Kartof­feln, Rote Rüben und so, — auch Apfel natür­lich. Einige übertrie­ben dies ehrlich gesagt, und handel­ten mit dem Diebes­gut .… der Rest ist Schwei­gen. Einmal, — ich war mit dem Fahrrad unter­wegs, — zogen wir Richtung Königs­bronn und wurden erwischt; meine Kumpels entwisch­ten, ich wollte aber mein Fahrrad nicht im Stich lassen, wurde gefaßt und zum Rathaus abgeführt, wo ich die ganze Beute auslee­ren mußte. Könnten Blicke töten, so hätte ich damals den Blicken meiner Oberko­che­ner »Richter« zum Opfer fallen müssen, — es geschah aber nichts. Am schwar­zen Brett aller­dings bei Zeiss hing ich dann andern­tags zur Abschre­ckung ausge­zet­telt wegen »Felddieb­stahl«.

Wir kochten uns auf kleinen Kochern aller Art im Martha-Leitz-Haus Mehlbrei und Milch­brei, — einer hatte gute Bezie­hun­gen zur Mühle gehabt … .

Im großen Raum des Martha-Leitz-Hauses entstand etwas wie eine Kanti­ne. Aber wir wurden nie richtig satt.

Dies bestä­tig­te in höchst illus­tra­ti­ver Weise Frau Hermi­me Blume, die, von Albert Leitz kommend, wo sie schon von der Revol­ver­dreh­bank zur Küche überge­wech­selt hatte, von Anfang an in der Carl-Zeiss-Küche im Martha-Leitz-Haus arbei­te­te. Ihr erster Kommen­tar: »Schön isch des damals gwesa«. Sie schil­der­te, wie »die ausge­hun­ger­ten Burschen« (»die hen schier da Kessel wegguckt vor lautr Hongr«) ankamen, und sie ihnen aus Mitleid den Suppen­tel­ler immer zweimal gefüllt hat, — wodurch dann meist für die höheren Herren, die etwas später zum Essen kamen, nichts mehr übrig war, — ein Grund für ihren Vorge­setz­ten Chefkoch Vogel, der zusam­men mit Frl. Lohrer, später verh. Prümmer als Wirtschaf­te­rin für die Küche zustän­dig war, ihr immer wieder die Leviten zu verlesen.

Frau Blume wußte zu berich­ten, daß auch die ganz hohen Herren, unter ihnen Prof. Walter Bauers­feld, (1879 — 1957 — Entwick­ler des Plane­ta­ri­ums) oben im Martha-Leitz-Haus gewohnt haben. Letze­rem habe sie so ab und zu »a Blümle ins Zimmer reinge­stellt«, und sei dadurch zu seinem erklär­ten Liebling gewor­den. (Prof. Bauers­feld über Hermi­ne Blume: Ja, so ein netter Kerl, — wenn sie nur ein bißchen anders sprechen würde).

Zurück zum Bericht von Heinz Rodeck:
Viele von uns began­nen dann ein Bratkar­tof­fel­ver­hält­nis, zu Einhei­mi­schen und versuch­ten mit der Zeit, ein Zimmer zu bekom­men. Es wäre sicher falsch, zu behaup­ten, daß sich die Oberko­che­ner uns Thürin­gern gegen­über ganz verschlos­sen hätten. Sicher, wir waren die Eindring­lin­ge, und die Oberko­che­ner wehrten sich instink­tiv dagegen, daß etwas Fremdes in den Ort rein komme; mit offenen Armen hat man uns nicht aufge­nom­men, — dies geht bis zu einem eigent­lich grund­lo­sen und unver­schul­de­ten Verhaßt­sein. Einige, die es betraf, haben gemerkt, daß man auf die Dauer nicht den »großen Max« spielen konnte. Die überwie­gen­de Mehrzahl aber hatte ein gutes Verhält­nis zu den Oberko­che­nern. Ich zum Beispiel, — und so erging es anderen in anderer Weise, — habe den Kontakt über den Sport, und zwar den Handball (Turnver­ein) gefun­den. Da waren auch andere. Dort waren wir voll akzep­tiert; man ist mit Kind und Kegel wandern gegan­gen, — man konnte Lands­mann sein, woher man wollte, — es war eine Gemein­schaft, wie ich sie seit dieser Zeit eigent­lich nie wieder erlebt habe.

Viel Gutes zum gegen­sei­ti­gen Verste­hen habe auch die Rössles­wir­tin Maier beigesteu­ert; rauh aber herzlich sei sie gewesen, und schimp­fen habe sie können wie ein Rohrspatz, — aber Herz habe sie gehabt, — und immer was zum Essen. — Auch in der »Schell« hat man sich getrof­fen, — sie war so eine Art Vergnü­gungs­zen­trum im guten Sinn.

Zur Unter­hal­tung sind im Martha-Leitz-Haus übrigens auch weiter­hin immer noch Filme im Kino gezeigt wor den. Herr Rodeck erinnert sich an den 1955 gedreh­ten Film »Des Teufels General« mit Curd Jürgens, der nach dem 1946 in New York urauf­ge­führ­ten gleich­na­mi­gen Drama von Zuckmay­er gedreht wurde.

Wenn sich, — und nach meinen Eindruck trifft dies zu, — dieses hier geschil­der­te Bild als Fazit aus den gewiß­lich schwie­ri­gen ersten beiden »gemein­sa­men« Jahren, 1946 und 1947, den Jahren des »Aufein­an­der­tref­fens« der Jenen­ser aus Thürin­gen und der Ostalb­schwa­ben aus Oberko­chen, heraus­kris­tal­li­siert hat, im Laufe von nun mehr über 40 Jahren, dann ist dies ein schöner Beweis dafür, daß die alten Lebens­weis­hei­ten: daß die Zeit Wunden heilt, und, daß aus Vielem die schönen Erinne­run­gen übrig­blei­ben, wirklich zutreffen.

Herzli­chen Dank den beiden Oberko­che­nern für ihre inter­es­san­ten Beiträ­ge. Zu vermer­ken wäre abschlie­ßend, daß es, allen Gerüch­ten zum Trotz, unzäh­li­ge gute und fröhli­che lands­män­ni­sche »Misch­ehen« gegeben hat in Oberko­chen, — die bis heute halten.

Dietrich Bantel

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte