Ein Phantom, zu deutsch ein Trugbild, war sie für die Oberko­che­ner stets gewesen: beim Bahnbau von Staats wegen mitge­lie­fert verwehr­te dem Normal­bür­ger die Bahnsteig­sper­re ungehin­der­te Erledi­gung seines Bedürf­nis­ses, der Benut­zer mußte entwe­der Reisen­der sein oder eine Bahnsteig­kar­te kaufen. Seit der Bahnhofs­re­no­vie­rung im Jahre 1949 geister­te es durch Akten und Zeitungs­ar­ti­kel, immer wieder gewünscht, aber nirgends gerne gesehen, in alter Plumps-Clo-Zeit hygie­ni­schen Ansprü­chen nicht genügend, im moder­nen Gewand und vollau­to­ma­tisch zu teuer. So mußten und müssen Einhei­mi­sche und Fremde ihre Bedürf­nis­se ohne entspre­chen­de »Anstalt« mit sich und der Umwelt ins Reine bringen.

Manche Leserin und mancher Leser wird nun naserümp­fend denken, o welch eine anrüchi­ge Geschich­te. Weit gefehlt! Als 1953 das Amtsblatt »Bürger und Gemein­de« ins Leben gerufen wurde, bemäch­tig­te sich unser Phantom auch dessen Spalten. Davon soll nun die Rede sein, denn wir finden dort oft amüsant gehal­te­ne Ausein­an­der­set­zung zwischen Bedürf­nis und Bedarf, ernst­haft geführ­te Verhand­lun­gen um Wunsch und Wirklich­keit, die sogar Landrat, Innen­mi­nis­ter und Landtag beschäftigen.

Gehen wir nun chrono­lo­gisch durch die einzel­nen Jahre der BuG-Bände.

1953: Ohne Ergeb­nis
Eine »kleine Anfra­ge die Bedürf­nis­an­stalt beim Bahnhof betref­fend« eröff­ne­te den Reigen und stellt fest, das Wort »Bedürf­nis­an­stalt« sei zwar so häßlich wie der entspre­chen­de Oberko­che­ner Ort. Dennoch sei die Frage nach dem Stand der Dinge aufzu­wer­fen, »denn auch ein Ab-Ort müsse noch ein menschen­wür­di­ger Ort sein«.

Der Zustand der Hütte, Gebäu­de könne man nicht sagen, sei »eine denkbar schlech­te Visiten­kar­te für einen aufstre­ben­den Industrieort«.

Vornehm zurück­hal­tend fällt die Antwort aus: »Zur Ehre der Bundes­bahn muß gesagt werden, daß sie sich seit Jahren um Verbes­se­run­gen bemühe und schon einiges erreicht hat . .«. Aber nun war da das liebe Geld, und selbi­ges reich­te vorn und hinten nicht und am aller­we­nigs­ten für das besag­te Örtchen. In Zeiten der Geldknapp­heit wird versucht, andere anzupum­pen. So auch die Bahn. Sie meinte, wenn eine bundes­bahn­ei­ge­ne Einrich­tung von der Öffent­lich­keit benutzt wurde, müsse diese also in unserem Fall die Gemein­de Oberko­chen, sich finan­zi­ell beteiligen.

Die Gemein­de ihrer­seits zierte sich aus gutem Grund, denn »es sind zahlrei­che eigene hygie­ni­sche Sanie­rungs­maß­nah­men durch­zu­füh­ren wie z.B. Kanali­sa­ti­on und an der Haupt­stra­ße die Besei­ti­gung mehre­rer Dungle­gen«, besser bekannt als »Misten«. Außer­dem sei »das Maß der Mitbe­nut­zung« des bahnin­ter­nen Locus durch Oberko­che­ner — davon sollte der Finanz­bei­trag abhän­gig sein — »nur schwer abzuschät­zen, geschwei­ge denn exakt zu erfas­sen«. Da man nicht so weit gehen wollte, diese Grund­satz­fra­ge durch Testper­so­nen aufhel­len zu lassen, schlos­sen sich die Akten für das Jahr 1953 unver­rich­te­ter Dinge.

1954: Guter Rat
Eine Glosse »Bundes­bahn, nix Kultu­ra« brach­te im Febru­ar 1954 unser Phantom wieder ans Tages­licht. Angeregt durch »neuar­ti­ge Aborte sparsams­ter Ausfüh­rung bei der Ost-Reichs­bahn« wurde vorge­schla­gen, sich in der Oberko­che­ner Angele­gen­heit, beim »erfin­de­ri­schen östli­chen Abort­re­fe­ren­ten« Rat zu holen. Jener hatte zwar keine Neuerfin­dung gemacht, sondern das alte franzö­si­sche Steh-Clo wieder entdeckt, und, so wurde geschrie­ben, »ein Abort mit Stehplät­zen könne sich auch in Oberko­chen besser sehen lassen als die bestehen­de Laternenpfahlpraxis«.

Doch Later­nen­pfahl hin, fehlen­des Örtchen her, — dies war das einzi­ge Lebens­zei­chen unseres Phantoms bis zum Jahr 1956.

1956: Verstop­fung
Am 1. Juni 1956 befaß­te sich der Oberko­che­ner Gemein­de­rat mit dem Umbau des Bahnhof­vor­plat­zes und in diesem Zusam­men­hang »wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, auch das Abort­pro­blem möge gelöst werden«. Dabei blieb es dann auch, wenngleich die Bundes­bahn der Gemein­de großzü­gig und »gebüh­ren­frei gestat­te­te, in der Mitte des Bahnhof­vor­plat­zes einen Licht­pilz zu setzen«, litt sie weiter­hin in der bewuß­ten Angele­gen­heit an chroni­scher Verstopfung.

1957: Hickhack
Über ein halbes Jahr verging bis zum nächs­ten Schlag­ab­tausch. Am 11. Febru­ar 1957 nahm sich der Gemein­de­rat unter Vorsitz von Bürger­meis­ter Bosch inten­siv der »Erneue­rung der öffent­li­chen Abort­an­la­ge beim Bahnhof« an, denn die Bahn hatte verlau­ten lassen, »50.000 DM sind für einen Neubau notwen­dig — und die Bundes­bahn kann diesen Betrag nicht aufbringen«.

Bei der »sehr sachlich, aber nicht ohne gewis­se Verbit­te­rung« geführ­ten Diskus­si­on standen sich zwei Meinun­gen gegen­über. Die Bundes­bahn argumen­tier­te, sie sei nicht verpflich­tet, beim Bahnhof eine Abort­an­la­ge zu betrei­ben, die »Fahrgäs­te können ihr Bedürf­nis in den Zügen verrich­ten«. Was die Finanz­la­ge der Bahn betref­fe, bringe der Bahnhof Oberko­chen nicht die zu erwar­ten­den Einnah­men. Der Perso­nen­ver­kehr sei zwar bedeu­tend, aber »der Ertrag aus dem Güter­ver­kehr sei trotz der wertmä­ßig sehr erheb­li­chen Produk­ti­on ortsan­säs­si­ger Firmen verhält­nis­mä­ßig gering«, weshalb Gemein­de und Indus­trie­fir­men der Bahn unter die Arme greifen sollten.

Der Gemein­de­rat hielt dem entge­gen, man habe der Bahn schon erheb­li­che Mittel zur Umgestal­tung des Bahnhof­plat­zes zukom­men lassen. Der Berufs­ver­kehr werde künftig »mit der Haupt­hal­te­stel­le Bahnhof« auch durch Omnibus­se bedient werden. »Wie, bitte schön, stellt sich die Bahn die Erledi­gung der Bedürf­nis­se ihrer Bahnbus­fahr­gäs­te vor?«, war eine wichti­ge Frage. Da die noch bestehen­de baufäl­li­ge Abort­an­la­ge ein Ärger­nis und Gefah­ren­punkt für Übertra­gung anste­cken­der Krank­hei­ten sei, wurde beschlossen:

»1. Die Gemein­de Oberko­chen fordert, die gesund­heits­po­li­zei­lich unzuläs­si­ge Abort­an­la­ge unver­züg­lich zu besei­ti­gen.
2. Die Gemein­de Oberko­chen fordert die Erstel­lung einer den hiesi­gen Bahnhofs­ver­hält­nis­sen angemes­se­nen Abort­an­la­ge und bittet den Landtags­ab­ge­ord­ne­ten Landrat Dr. Huber um Unter­stüt­zung, notfalls durch einen Antrag im Landtag«.

Damit war nun eindeu­tig das Oberko­che­ner Phantom zur Sache der Bundes­bahn gewor­den und hatte auch Einzug in die hohe Landes­po­li­tik gehal­ten. Aber ‘es kreißt der Berg und heraus kommt eine Maus’, so auch in unserem Fall. Eine Planung der Bahnver­wal­tung für Umbau und Moder­ni­sie­rung des Oberko­che­ner Bahnhofs wurde im Septem­ber 1957 vorge­legt, und — wie Bürger­meis­ter Bosch feststell­te — und es war auch ein Klein­ab­ort im Inneren des Bahnhofs vorge­se­hen, der für die Öffent­lich­keit so gut wie nichts nützt«, — und damit war wieder­um Funkstil­le bis zum Jahre 1959.

1959: Millio­nen­pro­jekt
In diesem Jahr geister­te unser Phantom durch die große Politik und wurde so landes­weit ruchbar. Landrat Dr. Huber unter­zog sich seiner Hausauf­ga­be gewis­sen­haft und wollte in einer »Kleinen Anfra­ge« im Landtag wissen, ob »der Bahnhof Oberko­chen bei den Maßnah­men zur Verbes­se­rung der Verhält­nis­se an Bahnhö­fen mitbe­rück­sich­tigt worden sei«, und falls dies nicht der Fall sei, ob »die Landes­re­gie­rung bereit sei, die Verhält­nis­se am Bahnhof Oberko­chen zu prüfen?«

Einige Monate später flatter­te ein Schrei­ben von Innen­mi­nis­ter Renner auf Bürger­meis­ter Boschs Schreib­tisch, das »die derzei­ti­gen Anlagen beim Bahnhof Oberko­chen verbes­se­rungs­be­dürf­tig« nennt und von einem Vorent­wurf berich­tet, der »mit einem Kosten­auf­wand von rund 1,8 Millio­nen DM den Bau eines dritten Haupt­glei­ses, einer Bahnsteig­un­ter­füh­rung mit Bahnsteig­über­da­chung und eine Erwei­te­rung des Empfangs­ge­bäu­des mit Einbe­zie­hung der Bahnsteig­un­ter­füh­rung und — gewis­ser­ma­ßen als Tüpfel­chen auf dem i der Millio­nen — eine neue Abort­an­la­ge vorsieht«: klassi­scher Fall einer positi­ven Antwort, die in Wirklich­keit eine Absage war. Denn was von diesem grandio­sen Plan nach 44 Jahren verwirk­licht ist, mag man selbst in Augen­schein nehmen. Auch Bürger­meis­ter Bosch sah die Felle Oberko­che­ner Hoffnun­gen den Kocher hinab­schwim­men und meinte, »die Regie­rung müsse zwar in länge­ren Zeiträu­men denken und planen, hoffent­lich aber würden die sofort notwen­di­gen kleinen Maßnah­men nicht im Blick auf die »Endlö­sung« auf viele Jahre zurückgestellt«.

1960: Zukunfts­mu­sik
Zunächst aber blieb die Gemein­de­ver­wal­tung am Drücker. Etwas war nämlich gesche­hen: »Der seit länge­rer Zeit nicht mehr benutz­ba­re Abort beim Bahnhof« war der Spitz­ha­cke zum Opfer gefal­len, was aus »ästhe­ti­schen und hygie­ni­schen Gründen begrüßt« wird, so schrieb Bürger­meis­ter Bosch.

Gleich­zei­tig erinner­te der Bürger­meis­ter an die Landtags­in­itia­ti­ve und an das Schrei­ben des Innen­mi­nis­ters, das er im Wortlaut nochmals mitlie­fert. Auch appel­liert er eindring­lich an die Bundes­bahn­ver­wal­tung, lieber mit kleinem Aufwand bald eine Lösung zu schaf­fen, als »auf die Zukunfts­mu­sik des Innen­mi­nis­te­ri­ums zu bauen«.

Die Antwort der Bahn ließ nicht lange auf sich warten: »Zur Zeit stehen selbst für eine kleine Lösung keine Mittel zur Verfü­gung«. Der Schup­pen werde behelfs­mä­ßig instand­ge­setzt, im übrigen bleibe nur gedul­di­ges Zuwar­ten — und »die Hoffnung, im nächs­ten oder übernächs­ten Jahr etwas Besse­res schaf­fen zu können«.

Epilog
Das Phantom, über das berich­tet wurde, war nicht vorran­gig ein Problem der Bundes­bahn, sie kam aus Gunst oder Ungunst der Umstän­de dazu. Unser Phantom war stets kommu­na­ler Abstam­mung mit endlo­ser Geschich­te, die aber durch­aus auch amüsan­te Züge trug, wie auch das im Jahr 1957 in BuG veröf­fent­lich­te Gedicht von Heinrich Seifert zeigt:

»Bedürf­nis­se — Zerwürf­nis­se
Also lautet ein Beschluß
daß sich der Mensch entlee­ren muß;
und aus eben diesem Zwecke
verschanzt er sich in einer Ecke,
und hinter der verschlos­se­nen Tür
entleert er sich ganz ohn’ Genier.
Häuschen werden aufge­rich­tet
und entspre­chend abgedich­tet,
damit kein Ärger­nis entsteht,
wenn jemand vorüber­geht.
In Oberko­chen, o wie dumm,
ist dieses »Haus« schon alters­krumm;
zum Anblick ist es eine Schan­de,
- dies bemerk ich nur am Rande -
zwecks Erneu­rung wird verhan­delt, -
bis heut hat sich nichts angeban­delt
und schon seit der Jahre sieben
ist man ohne Erfolg geblie­ben,
denn fünfzig­tau­send Deutsche Mark
soll kosten der Bedürfnispark …«

Ja, und so ist es bis heuti­gen Tags geblie­ben und wird es auch weiter­hin bleiben, es sei denn, ein reicher Prinz erlöst unser Phantom und macht es doch noch zu dem, was es immer werden wollte: ein öffent­li­ches WC. Sicher ist nur, daß dem Heimat­ver­ein noch viel Zeit bleibt, die jünge­re Geschich­te des Bedürf­nis­an­staltsphan­toms aufzuarbeiten.

Oberkochen

Zu den Fotos:

Aufnah­me 1:
Die aus den frühen Fünfzi­ger­jah­ren stammen­de Aufnah­me zeigt im Vorder­grund den Oberko­che­ner Bahnhof. Rechts vom Empfangs­ge­bäu­de ist das bahnei­ge­ne und wie es im Gedicht heißt »alters­krum­me Haus« deutlich auszumachen.

Aufnah­me 2:
Bahnhof Oberko­chen nach der Renovie­rung im Juni 1955 (rechts am Bildrand das bewuß­te »Haus«) — Die Aufnah­me stell­te dankens­wer­ter­wei­se der frühe­re Bahnhof vorstand Herr Feil zur Verfügung.

Dietrich Bantel

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