Vor einigen Jahren kam ich durch Zufall in den Besitz einer Postkar­te, die im Jahre 1902 in Oberko­chen aufge­ge­ben und abgestem­pelt wurde und an folgen­den Adres­sa­ten gerich­tet war:

Ober-Matro­se Wilhelm Häuse­rer
an Bord S.M. Sch. »Vineta«
durch Vermitt­lung des
Kaiserl. Hofpost­amts
Berlin

Oberkochen

Diese Postkar­te ist, soweit bis jetzt bekannt, die ältes­te fotogra­fi­sche Ansicht des ältes­ten Oberko­che­ner Gasthau­ses, nämlich des »Hirsch«, — Gasthaus und Braue­rei Georg Nagel, der hier als »Dein Vetter G. Nagel« mit einem herzli­chen Gruß mitunterschreibt.

Die »Vineta«, an deren Bord sich der Ober-Matro­se Häuse­rer befand, war ein Schiff Seiner Majes­tät (S.M.) des Deutschen Kaisers und Königs von Preußen, Wilhelm II (1859 — 1941), der nach dem Ersten Weltkrieg am 10.11.1918 ins Exil in die Nieder­lan­de ging und am 28.11.1918 auf den Thron verzich­te­te. Die »Vineta« war nach einer sagen­haf­ten vom Meer verschlun­ge­nen Stadt an der Ostsee benannt. Den Philate­lis­ten ist die »Vineta« durch eine Brief­mar­ken­ra­ri­tät, die sie wohl nie besit­zen werden, bekannt: Im Jahre 1901 wurden auf diesem Schiff grüne 5‑Pfen­nig-Germa­nia-Brief­mar­ken senkrecht halbiert und mit einem violet­ten Handstem­pel­auf­druck »3 Pf« verse­hen, so verwen­det und von der Post beför­dert. Diese sogenann­te »Vineta-Aushilfs-Ausga­be« ist sehr teuer — wer sie kaufen möchte, muß dafür fast DM 30.000,- hinblättern.

Sollte der Matro­se Häuse­rer schon 1901 auf der »Vineta« gedient und so hin und wieder nach Hause geschrie­ben haben, so wären seine Zeilen heute ein Vermö­gen wert, — sofern sie aufbe­wahrt wurden.

Dies alles erzählt diese litho­gra­fisch farbig angeleg­te Fotopost­kar­te, — man könnte noch vielem nachge­hen. (Verlag von Fr. Wager, Fotograf, Heiden­heim). Über den »Hirsch« selbst ist schon viel geschrie­ben worden. So schrieb Christ­hard Schrenk erst am 3.8.1984 im Amtsblatt BuG und am 28.12.84 in der »Schwä­bi­schen Post« über die lange Geschich­te des »Hirsch«.

1984 war die erste urkund­li­che Nennung Oberko­chens noch nicht bekannt. Zwischen­zeit­lich liegt eine Urkun­de aus dem Jahre 1337 vor, — das 650-Jahre Fest haben wir im letzten Jahr gefei­ert. Umso inter­es­san­ter wird eine andere, aus Königs­bronn stammen­de Urkun­de, durch die sowohl der »Hirsch« als auch die »Untere Mühle«, die »Schee­rer­müh­le«, wie man sie in Oberko­chen nennt, (die »Obere Mühle« wurde kürzlich bespro­chen — ein Bild liegt inzwi­schen vor und wird bald veröf­fent­licht), bis ins Jahr 1358 nachzu­wei­sen sind, — also nur 21 Jahre nach der Urkun­de von 1337, in der Oberko­chen zum ersten Mal urkund­lich nachzu­wei­sen ist. Beide Anwesen können heute also mit Stolz auf eine mindes­tens 630-jähri­ge Geschich­te zurückblicken.

Der »Hirsch« (Besit­zer: Hans Nagel jr./Pegnitz) ist nicht nur die ältes­te Taver­ne Oberko­chens, sondern gleich­zei­tig eine der ältes­ten in ganz Württem­berg. Der Name »Hirsch« ist erst seit 1831 nachzuweisen.

Frau Nagel sen. bewahrt bei ihren Unter­la­gen, die sie uns freund­li­cher­wei­se zur Verfü­gung stell­te, eine inter­es­san­te Origi­nal­hand­schrift von Bürger­meis­ter Gustav Bosch, die auszugs­wei­se die »Hirsch«-Konzessionsakten des Landrats­am­tes, begin­nend 1865, auflis­tet, — auch die einer angeglie­der­ten Sommer­wirt­schaft. Diese Auszü­ge werden durch Anmer­kun­gen aus den Gemein­de­rats­be­rich­ten ergänzt; — entspre­chend dem Bericht über die »Schell« in BuG v. 31.1.58 hatte Bürger­meis­ter Bosch demzu­fol­ge auch einen Bericht über den »Hirsch« geplant.

Hier die inter­es­san­tes­ten Notizen:
Gasthaus z. »Golde­nen Hirsch«
Oberko­chen
Inhalt der Konzes­si­ons­ak­ten des Landratsamts

1) Im Frühjahr 1865 beantragt die Johan­nes Fuchs Hirsch­wirts­wit­we die Conzes­si­on für eine (Sommer)-Speisewirtschaft auf ihrem Gut am Wege vom Ort zur Bahnhofs­sta­ti­on (1. Zug in Oberko­chen: 13.9.1864 (D.B.)), das sie in einen Garten verwan­deln will. Der Gemein­de­rat befür­wor­tet das Gesuch am 21. Mai 1865. Dazu ist vermerkt: Frau Fuchs wünscht eine Speise­wirt­schaft, welche die Abrei­chung aller Geträn­ke sowie auch von kalten und warmen Speisen enthal­te. — Conzes­si­ons­ge­such durch Ausru­fen öffent­lich bekannt­ge­macht. 15 Tage keine Einwen­dun­gen. — Die Konzes­si­on gilt für eine »Sommer­wirt­schaft im Garten als Neben­wirt­schaft zum Hirsch«. (Bahnhof­stra­ße).

Inter­es­sant ist auch ein Vermerk von BM Bosch aus den Gemein­de­rats­un­ter­la­gen des Jahres 1865: Oberko­chen: 1240 Einwoh­ner und »für Wirtschafts­ge­wer­be gut gelegen«. 2 Schild- und Speise­wirt­schaf­ten, 1 Speise­wirt­schaft, 1 Gassen­wirt­schaft, — zusam­men 4. Alle machen von ihrer Conzes­si­on Gebrauch.

2) 1870 übernimmt Caspar Fuchs den Betrieb von seiner in diesem Jahr verstor­be­nen Mutter. Bei 1197 Einwoh­nern wird eine Conzes­si­on durch den Gemein­de­rat befür­wor­tet. Vermerk: Gesuch­stel­ler hat schönes Vermö­gen und betreibt bereits eine Bierbraue­rei mit Schild- und Speisewirtschaftsgerechtigkeit.

3) Im Septem­ber 1875 verkauft Caspar Fuchs den »Hirsch« an Paul Engel, led. vollj., Bierbrau­er von Nördlin­gen, der seine Konzes­si­on am 8.6.1876 erhält.

4) Am 21.8.1888 kauft Johann Georg Nagel, Bierbrau­er und Ökonom von Bargau den »Hirsch«. Er und seine Familie besit­zen Bürger­rech­te in Heubach. Der Gemein­de­rat von Bargau erteil­te übrigens ein hervor­ra­gen­des Vermö­gens­zeug­nis! Im August dieses Jahres werden es also genau 100 Jahre, daß der »Hirsch« im Besitz der Familie Nagel ist, — genügend Grund für diesen Artikel.

5) Am 26.6.1913 stirbt Joh. Georg Nagel und seine Witwe Marie übernimmt das Anwesen Kirch­gas­se 151, das lt. Grund­buch durch einen Gang mit Haus 152 verbun­den ist. Damals gab es im »Hirsch« 6 Fremden­zim­mer. Conzes­si­on vom 27.8.1913.

6) Am 22.11.1915 stirbt Maria Nagel. Georg Nagel, Sohn, ersucht um eine eigene Conzes­si­on, die für die Sommer­wirt­schaft aller­dings erst am 5.2.1916 erteilt wird. Hierzu der Gemein­de­rat am 23.12.1915: »In der gegen­wär­ti­gen Zeit ist ein Bedürf­nis für die Garten­wirt­schaft nicht vorhan­den, aber später wieder, nach dem Krieg«.

7) 1936 wird die Wirtschaft verpach­tet. Die Pächter haben seit diesem Jahr viele Male gewech­selt, allein bis 1958 4 mal, — wobei dies noch relativ lange Pacht­zei­ten waren.

Den Oberko­che­nern ist der Sohn des Georg Nagel, Hans Nagel (1920 — 1981) noch wohlbe­kannt. Seine Witwe, Frau Elisa­beth Nagel, schil­der­te ihren Mann liebe­voll als einen wahren »Gauls­nar­ren« und legte einen Zeitungs­be­richt vom 31. Juli 1961 (Schwä­bi­sche Post) vor, der Hans Nagel mit 2 Super­pfer­den bei einem Römischen Wagen­ren­nen in Waldhau­sen zeigt, auf dem er, obwohl kurz vor dem Ziel das rechte Rad absprang (Foto) — er fuhr mit einem Rad durchs Ziel — den 1. Platz beleg­te. Hans Nagel lebt übrigens auch in einem anderen oft veröf­fent­lich­ten Bild in Oberko­chen weiter, das ihn zusam­men mit Pflug­wirt Alfons Fischer, einen Vierspän­ner mit Schnee­pflug führend, vor dem »Ochsen« zeigt. Am »Hirsch« wird, seit ich ihn kenne, gebaut und verän­dert, — nicht immer zu seinem Vorteil. Frau Nagel selbst meinte: »Mein ganzes Leben lang wurde gebaut und gebaut, — und wenn i amol stirb, dann wird noch gebaut.…«.

Oberkochen

In der heuti­gen Wirtschaft sind Antiqui­tä­ten zu sehen, die aus dem alten »Hirsch« stammen.

Ein umtrie­bi­ger Geist war übrigens auch der alte Georg Nagel:
Aus den Geschäfts­bü­chern des kürzlich bespro­che­nen (BuG v. 29.4.88) 1906 errich­te­ten Elektri­zi­täts­werks Oberko­chen ist ersicht­lich, daß er mit Abstand der beste Kunde des Johan­nes Elmer war. Georg Nagel bezog als einer der ersten Oberko­che­ner seinen Strom von dort, lange bevor sich die UJAG in Oberko­chen instal­lier­te. Über all die Jahre bis 1914 sind laufend Moder­ni­sie­run­gen und Umrüs­tun­gen im Bereich der Elektro­tech­nik nachweis­bar, — zum Teil sehr großen Umfangs. Für das Jahr 1913 kamen sage und schrei­be 936.90 Mark zusam­men, eine wahrhaft statt­li­che Summe damals. Der »Licht­ver­brauch« allein für den »Hirsch« belief sich auf 809 kwtt á -.50 Pfennig, was die Summe von 404,50 Mark ergibt. Aus dieser Jahres­rech­nung einige weite­re inter­es­san­te Angaben:

Licht­ver­brauch Bierkel­ler pauschal  90,- Mark
Licht­ver­brauch in Pferde- und Viehstall und Scheuer  55.50 Mark
Im gleichen Jahr 2 Fremden­zim­mer elektrifiziert  60,- Mark
das Schlaf­zim­mer elektrifiziert  20,- Mark
Inter­es­sant sind auch folgen­de Preisvergleiche: 
Repara­tur im Schlaf­zim­mer und Bügeleisen (!)  4,- Mark
1 neuer Schal­ter in Scheuer  1.50 Mark
die Leitung der Klingel in Rohr verlegt  1.50 Mark
1 Lampe im Bügelzimmer  12.- Mark
je 1 Lampe im Keller und im Maschinenhaus  24,- Mark

Wohl nichts von alledem ist heute noch erhalten.

Unver­än­dert hat am »Hirsch« die letzten beiden Jahrhun­der­te nur der »Golde­ne Hirsch« über dem Eingang die Zeiten überdau­ert. Deshalb wurde er auch unter Denkmal­schutz gestellt. Für den »Hirsch« insge­samt war’s leider zu spät.

Dietrich Bantel

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