Am Schluß des voran­ge­hen­den Berichts wurde der Eindruck erweckt, sein Verfas­ser würde Lehrer Stingel beim Viehver­kauf am 26. Febru­ar — also heute — assis­tie­ren. Deshalb sei mitge­teilt, daß dies kein verfrüh­ter April­scherz war, sondern nur eine nicht beabsich­tig­te Namens­pla­zie­rung, die viele Leser ergötzt hat. Allen zur Freude soll heute nochmals eine Episo­de mit Lehrer Stingel erzählt werden, die erst vor einigen Tagen entdeckt wurde. Zugleich wird die Gelegen­heit genutzt, das vor 14 Tagen erschie­ne­ne Foto im Origi­nal der Bildta­fel von Kuno Gold mit dessen Namens­an­ga­ben nochmals zu bringen.

Lehrer Stingel nannte nicht nur vierbei­ni­ges Vieh sein eigen, er war auch Freund gefie­der­ter Kreatur. Etwa 40 Tauben sorgten dafür, daß es hinter dem alten evange­li­schen Schul­haus (an der Ecke zwischen heuti­ger Bgm.-Bosch-Straße und Aalener Straße) wie im sprich­wört­li­chen Tauben­schlag zuging. Das Hobby der Tauben­hal­tung und ‑zucht teilte er mit seinem Vorge­setz­ten, dem evange­li­schen Pfarrer Dürr, der vermut­lich noch einige Tauben mehr unter dem Kirchen­dach beher­berg­te. (Von Pfarrer Dürr stammt übrigens die bekann­te Darstel­lung der alten evange­li­schen Kirche, auch das Gasthaus »Ochsen« hat er gezeichnet).

Oster­mon­tags­fre­vel
Nach Orgel­spiel, Mesner­amt, Sonntags­schu­le wollte Lehrer Stingel sich am Oster­mon­tag — es war der 9. April 1855 — ein wenig bei seinen Tauben regene­rie­ren. Was aber mußte er sehen? »Eine Taube konnte nicht mehr fliegen, weil ihr ein mit Vogel­leim bestri­che­ner Reisig­zweig ankleb­te«. Nach der Ursache forschend, verriet ihm ein Nachbar, er habe die beiden Sonntags­schü­ler Chris­ti­an S. und Melchi­or A. »nachdem sie Leimru­ten auf die Tauben gewor­fen hatten, wegsprin­gen sehen«. Da war Lehrer Stingel nicht nur von den Socken, sondern er machte sich auch schleu­nigst auf diesel­ben und eilte schnur­stracks in das Haus des A., stell­te ihn zur Rede, ließ auch den S. herbei­ho­len und führte beide dem Schult­hei­ßen zum Verhör vor. Auf frischer Tat ertappt konnten die beiden ihre Untat nicht leugnen.

Oberkochen

Tauben­klau auch beim Pfarrer
Nun war dies nicht der erste Stuß zwischen dem seit einem Jahr in Oberko­chen an der evange­li­schen Schule amtie­ren­den »Schul­leh­rer­ver­we­ser Stingel« und der reife­ren Jugend, die »der Schule entwach­sen die Sonntags­schu­le« zu besuchen hatte. Wenige Monate zuvor klagt der Lehrer vor dem Kirchen­con­vent »über Faulheit und rohes Beneh­men in der Sonntags­schu­le (die Burschen hatten sogar »einmal den Schlüs­sel zum Schul­zim­mer entwen­det« und damit den Unter­richt verhindert).

Deshalb eilte Lehrer Stingel postwen­dend zu Pfarrer Dürr und berich­te­te »brühwarm« sein Oster­mon­tags­er­leb­nis. Da fiel es dem Pfarrer wie Schup­pen von den Augen: Hatte er nicht vor ein paar Tagen ähnli­che Leimru­ten bei seinem Tauben­schlag entdeckt? Beiden, Pfarrer und Lehrer, ging ein Licht auf und »sie wußten nun, sich das Verschwin­den so vieler ihrer Tauben zu erklä­ren«. Lehrer Stingel hatte im Herbst 36 Tauben beses­sen, jetzt waren es nur noch 17 und beim Pfarrer waren inner­halb von zwei Jahren 40 seiner geschätz­ten Tiere anderen Liebha­bern leben­di­ger oder gebra­te­ner Tauben auf den Leim gegangen.

Aburtei­lung
Pfarrer Dürr und Lehrer Stingel waren sich einig: den Tauben­fän­gern mußte das Handwerk gelegt werden. Deshalb waren »die Tauben­die­be beim König­li­chen Oberamt anzubrin­gen«. Doch baten die beiden Misse­tä­ter noch am Oster­mon­tag­abend beim Lehrer um gut Wetter. Der ließ sich erwei­chen und nahm von einer Klage beim König­li­chen Amtsge­richt Abstand. Einen Denkzet­tel sollten die Spitz­bu­ben aber dennoch bekom­men: »Die Sache mußte vom Kirchen­con­vent abgerügt werden«. Doch fand Pfarrer Dürr nicht nur rasch das Haar in der Suppe des Stingel­schen Vorschlags: Der Kirchen­con­vent war nicht befugt, Diebstahl und ähnli­che Delik­te zu bestra­fen, sondern auch einen gangba­ren Ausweg: Nicht Diebstahl wurde den beiden angelas­tet, sondern eine »dabei vorge­kom­me­ne Enthei­li­gung festli­cher Zeit«, zumal auch schon am Karfrei­tag einige Tauben vom Pfad der Tugend wegge­lockt worden waren.

Nach Anhörung von Zeugen — die Verhand­lung füllt im Kirch­con­vents­pro­to­koll­buch fünf Seiten — wurde das Urteil gefällt: Sonntags­schü­ler S. erhält 24 Stunden Arrest, A. kommt mit 12 Stunden weg. Von einer Geldstra­fe wird abgese­hen, da S. »seit mehr als zwei Jahren mit 1 Gulden und 21 Kreuzern Strafe wegen Sonntags­schul­ver­säum­nis­sen im Rückstand ist« (und mangels Masse sowie­so nicht zahlen kann).

Mit gleicher Münze, dennoch ohne Erfolg
Die Geschich­te könnte nun zu Ende sein. Jedoch versuch­te der Haupt­übel­tä­ter die obrig­keit­li­che Raffi­nes­se, trotz bürger­li­cher Nachsicht kirch­li­che Verur­tei­lung auszu­spre­chen, mit annähernd gleicher Münze heimzu­zah­len. Am 6. Mai 1855 war wieder einmal »am Sonntag­nach­mit­tag von 2–4 Uhr Sonntags­schul­vi­si­ta­ti­on« angesetzt. Die sonntags­schul­pflich­ti­gen Jugend­li­chen »beider Geschlech­ter hatten sich einge­fun­den; es fehlte nur Einer«, so steht im Pfarr­be­richt. Und, nun darf dreimal geraten werden: wer fehlte? Es war Chris­ti­an S., der Tauben­dieb. Er hatte sich »den Sonntag der Visita­ti­on dafür ausge­wählt, seine kirchen­amt­lich zuerkann­te Arrest­stra­fe« justa­ment dann bei Wasser und Brot abzusit­zen, wenn seine Alters­ge­nos­sen in Rechnen, Lesen und Schrei­ben geprüft wurden und »Bibel­sprü­che und Lieder­ver­se zu memorie­ren« hatten.

Pfarrer Dürr ging derar­tig despek­tier­li­ches Verhal­ten wider den Strich, zumal er »den Sonntags­schü­lern, nament­lich den ledigen Söhnen, hinsicht­lich ihrer Sittlich­keit« kein gutes Zeugnis auszu­stel­len vermoch­te. Er erteil­te Chris­ti­an S. wegen seiner Schlitz­oh­rig­keit« einen ernst­li­chen Verweis und stell­te in Aussicht, auch »das Versäum­nis der Sonntags­schul­vi­si­ta­ti­on kirchen­con­vent­lich abzustrafen«.

Sonntags­schu­le ohne Ende
Ob diese Drohung auch vollzo­gen wurde, ist nicht bekannt. Aber Chris­ti­an S. taucht in den folgen­den Monaten in den Proto­koll­spal­ten immer wieder als mit Geldstra­fen beleg­ter Sonntags­schul­schwän­zer auf. Als er im folgen­den Sommer seiner Sonntags­schul-Schul­pflicht genügt hatte, ergab die Schluß­prü­fung, »daß er früher gelern­te Sprüche und nament­lich den Catechis­mus gänzlich verges­sen hatte«. Da er zur zugestan­de­nen Wieder­ho­lungs­prü­fung nicht erschien, wurde er mit einer Strafe von 24 Kreuzern belegt und die Prüfungs­kom­mis­si­on beschloß, ihn solan­ge als sonntags­schul­pflich­tig zu betrach­ten, bis er mit ordent­li­chen Kennt­nis­sen entlas­sen werden könne. Nach allem, was das Proto­koll aussagt, wäre Chris­ti­an S. wohl sein ganzes Leben lang sonntags­schul­pflich­tig geblie­ben, wenn er nicht eines Tages vorge­zo­gen hätte, über den Volkmars­berg in Richtung Rosen­stein zu verduf­ten; denn er stamm­te aus Heubach und und war »Azubi« bei einem Oberko­che­ner Wirt gewesen.

Volkmar Schrenk

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