Am Schluß des vorangehenden Berichts wurde der Eindruck erweckt, sein Verfasser würde Lehrer Stingel beim Viehverkauf am 26. Februar — also heute — assistieren. Deshalb sei mitgeteilt, daß dies kein verfrühter Aprilscherz war, sondern nur eine nicht beabsichtigte Namensplazierung, die viele Leser ergötzt hat. Allen zur Freude soll heute nochmals eine Episode mit Lehrer Stingel erzählt werden, die erst vor einigen Tagen entdeckt wurde. Zugleich wird die Gelegenheit genutzt, das vor 14 Tagen erschienene Foto im Original der Bildtafel von Kuno Gold mit dessen Namensangaben nochmals zu bringen.
Im März des Jahres 1857 war im »Amts- und Intelligenzblatt« von Aalen folgendes zu lesen:
»Da es höchst unklug wäre, wenn ein Lehrer seinen eigenen Stand selbst herabwürdigen und entehren würde, so können auch nur dumme und einfältige Leute glauben, daß ich der Einsender jenes Aufsatzes bin.
Lehrer Stingel, Oberkochen«
Beigefügt war der ausdrückliche Vermerk der Redaktion, der »bezeugt, daß Lehrer Stingel nicht der Einsender des genannten Artikels ist«.
Warum dies?
Anonyme Klage
Einige Tage zuvor war unter der Überschrift »Eingesendet« im Aalener Blatt ein Artikel erschienen, der sich nicht nur mit der wirtschaftlichen Lage des Lehrerstandes im allgemeinen auseinandersetzte, sondern die Situation eines Lehrers schilderte, »in einer Gemeinde, die zu den besten gehört, ist doch über 3000 Morgen die umliegenden Berge bedeckender Wald ihr Eigentum«. (Hieraus und aus weiteren Einzelheiten konnte man zwischen den Zeilen lesen, daß der fragliche Ort Oberkochen sei).
Weiter führte der unbekannte Artikelschreiber aus:
»Die Gemeinde ist im Besitz eines Lehrers, der in außergewöhnlich dürftigen Umständen sich befindet. Um seine Lage zu erleichtern, wurde von Seiten des Stiftungsrates beschlossen, eine Hauskollekte für ihn anzustellen«. Ein Schneider des Ortes — »sonst auch als ein Schreier bekannt« — wurde beauftragt, milde Gaben für den Lehrer zu sammeln: »Der eine wies den Schneider mit derben Worten von der Tür, andere gaben mit widerstrebenden Herzen und beißenden, auf den Schulmeister gemünzten Worten, dritte gaben willig und gern. So kamen für den Armen ein Quantum Frucht und einige Gulden zusammen. Aber das Erbettelte wurde ihm nicht auf einmal zur Verfügung gestellt, sondern bloß in Portionen auf dem Rathaus verabreicht«.
Dies wollte die Oberkochener Schulaufsicht nicht auf sich beruhen lassen. Nach dem Motto »getroffene Hunde bellen« verfaßten der Vorsitzende des katholischen Stiftungsrates, Pfarrer Desaller, und Schultheiß Wingert ebenfalls einen Leserbrief.
Entgegnung
In ihrer Entgegnung geben Pfarrer und Schultheiß die ungute wirtschaftliche Lage des »Einsenders« zu, zugleich dokumentierend, daß es sich um einen Oberkochener Lehrer handelte. Sie verteidigen aber auch sehr bestimmt ihr Vorgehen: »Wollte man die genannte Familie nicht dem größten Elend überlassen, blieb für den Augenblick nichts anderes als eine Hauskollekte. Bittschriften an hohe Personen einzureichen — dies wäre dem klagenden Lehrer sinnvoller erschienen -, hätte, da »schnellste Hilfe dringend Gebot war«, zu lange gedauert. Schließlich seien »freiwillige Gaben von Bauern so wenig entwürdigend, wie Gnadengaben aus hohen Händen oder öffentlichen Kassen«.
»Wenn es dem Verfasser des Artikels ernst gewesen wäre, die Ehre des höchst achtbaren Schullehrerstandes zu heben, hätte er lieber schweigen oder den Mut haben sollen, mit seinem Namen zu unterzeichnen. Nur im letzteren Fall würde ihm das Recht zugestanden, eine ganze Gemeinde dem öffentlichen Urteil preis zu geben. Im übrigen sei die Sache nicht dazu angetan, »die Ehre des höchstachtbaren Schullehrerstandes zu heben«, und von der örtlichen Schulbehörde sei das »gesetzlich möglich getan worden, um auf noble Weise nachhaltige Hilfe zu gewähren«.
Selbstdarstellung
Zur geschilderten Auseinandersetzung darf gesagt werden, daß der »höchstachtbare Schullehrerstand« zwar in jener Zeit im allgemeinen Ansehen und Titel hatte, die Mittel aber tatsächlich oft spärlich flossen. Dies war im Jahre 1849 für einen Lehrer der Anlaß, »über seine persönlichen Verhältnisse« in der Zeitung zu berichten:
»Ich habe Haare, die vor der Zeit grau geworden,
eine Stirn, die beständig zusammengezogen ist,
Ohren, die breit und dick sind,
einen Mund, voll und groß, beständig fragend:
Matth. 6,31 (was werden wir essen, was trinken …),
Wangen, wie der wachsende Mond am dritten Tage,
Zähne: schlecht, doch gut genug zu beißen, was ein Lehrer hat,
Magen: leer, Galle: stets zum Überlaufen voll,
Zwerchfell: der ganze Mann überzwerch,
Kleidung: sie entspricht ganz der Besoldung.«
Um ihr Einkommen zu verbessern, schauten sich die Lehrer häufig nach Nebenerwerbsquellen um. Dies ging vom Aufziehen der Turmuhr über Mesner- und Organistendienste bis zu Versicherungsagenturen und Landwirtschaft. Als Beispiel dafür: Am 22. Februar 1895 erschien im Aalener Amts- und Intelligenz-Blatt folgende Anzeige:
»Oberkochen — Feile Schafe
Gut gewinterte Mutterschafe und Göltvieh verkauft am 26. Februar nachmittags Lehrer Stingel, Oberkochen«
Volkmar Schrenk
