Selten hat ein Bericht so viel Aufmerksamkeit und Reaktionen ausgelöst wie unser Bericht 177, der die Opfer des Fliegerangriffs auf einen KZ-Häftlings-Transport beim Oberkochener Bahnhof zum Gegenstand hatte. Bei mir meldeten sich 3 weitere Augenzeugen des Geschehens, Herr Sepp Bauer, Herr Hermann Schimmel und Herr Anton Feil. Herr Bauer war seinerzeit als ein Junge zwischen 13 und 14 Jahren unmittelbar nach dem Angriff zuhause ausgebüchst und war die ganze Zeit bis zur Weiterfahrt des Zugs aus Neugier im Bereich des Bahngeländes »herumgestrichen«. Herr Schimmel war als 19jähriger junger Mann kriegsverwundet im Schnaitheimer Lazarett stationiert und durfte gegen Ende des Aufenthalts übers Wochenende heim nach Oberkochen, wohin er, und zurück zum Lazarett, zu Fuß ging. Er befand sich auf einem Spaziergang auf der Rodhalde genau über dem Bahnhofsgelände und bekam von dort aus den Angriff von der ersten Sekunde an direkt mit. Herr Feil war schon seit 1939 im Fahrleiterdienst beim Bahnhof Oberkochen und gleichzeitig Vertreter des Vorstehers Barth. Er kam, wie Herr Bauer, unmittelbar nach dem Angriff zum Bahnhof und bekam die Sache hautnah mit. Im Jahr 1985 wurde er von einem der KZ-Häftlinge, einem Herrn Ernest Gillen aus Luxemburg, der Transport und den Krieg überlebt hat, angeschrieben und um eine Hergangsschilderung gebeten, die er in aller Ausführlichkeit verfaßte. Da diese Schilderung eine Reihe von bisher unklar Gebliebenem aufklärt und sich bis zur letzten Zeile spannend liest, drucken wir sie in unserem heutigen Bericht ab. Sie wurde in der luxemburgischen Ausgabe von »Rappel« (Erinnerung), einer regelmäßig erscheinenden Schrift des luxemburgischen Verbandes ehemaliger Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge im Jahr 1986 abgedruckt.
Zunächst jedoch noch einige Anmerkungen der 3 genannten Augenzeugen:
Alle 3 Zeugen dementierten, wie Herr Dr. Sußmann, Frau Bäuerle und Frau Schoch dies bereits in unserem Bericht 177 getan haben, übereinstimmend in aller Schärfe die Berichte, die in dem Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstands und der Verfolgung 1933 — 1945 vom Studienkreis Deutscher Widerstand abgedruckten »Aussagen von Zeitzeugen«, nach welchen in Oberkochen die Rede von angeblich 70 bis 80 Opfern des Fliegerangriffs die Rede ist. Dagegen bestätigten auch diese Zeugen, daß eine große Anzahl von KZ-Häftlingen unmittelbar nach dem Angriff über die Rodhalde und auch Richtung Unterkochen und Ort Oberkochen geflohen sind.
Herr Schimmel schließt nicht aus, daß der Grund für dieses Gerücht eine Verwechslung mit der Zahl der Geflohenen ist. Jedenfalls beobachtete er, daß, nachdem die Lokomotive des aus Aalen kommenden und Richtung Bahnhof Oberkochen fahrenden Zuges von den tieffliegenden Jabos (Jagdbomber) getroffen war, der Zug ausrollte, und daß, noch ehe der Zug zum Halten gekommen war, zahlreiche Häftlinge vom noch fahrenden Zug absprangen und sich sofort hauptsächlich Richtung Rodhalde aufmachten. Sie suchten Schutz in den Hecken und benutzten den Trampelpfad, der etwa vom heutigen Haus Mannes aus den Hang hinaufführte (»s’Goißaweagle«). Die Fliehenden seien auf ihn zugekommen und hätten, als sie ihn in Uniform entdeckten, Angst gezeigt, — er habe sie Richtung Wald »weitergewunken« und sei dann zum Bahnhof hinab, ist dort von einem Wachposten angemotzt worden und dann weitergegangen. Die Zahl der Geflohenen gab Herr Schimmel mit »mindestens 70« an, so daß die oben genannte Verwechslung möglich erscheint. Es wurde bezeugt, daß man einigen der Geflohenen im Ort Zivilkleidung gegeben habe; was jedoch aus den getürmten KZ-Häftlingen geworden ist, ist nicht bekannt. Fest steht, daß schon das Ausstatten der Häftlinge mit Zivilkleidung bei Bekanntwerden den Tod der Fluchthelfer nach sich gezogen hätte.
Ehe wir den Bericht von Herrn Feil bringen, möchten wir eine andere Unebenheit aufklären. Im Bericht des Studienkreises Deutscher Widerstand ist davon die Rede, daß die Opfer des Angriffs »etwas abseits« beigesetzt worden sind. Tatsächlich sind sie außerhalb des ev. Friedhofs beigesetzt worden. Das Grab kam erst mit der Friedhofserweiterung innerhalb desselben zu liegen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die Opfer nicht auf dem direkt beim Bahngleis gelegenen kath. Friedhof beigesetzt werden konnten oder durften. Eine weitere Ungereimtheit stellt Herr Anton Feil in seinem Bericht, der sich auf Angaben der Stadtverwaltung stützt, klar, nämlich die Frage, weshalb von den insgesamt 8 Opfern nur 5 auf dem ev. Friedhof bestattet liegen.
Einer bislang ungeklärten Frage bin ich nachgegangen: Was ist aus den vielen Häftlingen geworden, denen es gelang, die Situation zu einer Flucht zu nützen, und wer hat ihnen weitergeholfen. Fest steht, daß die meisten Häftlinge über die Rodhalde Richtung Härtsfeld flohen. Andere sind Richtung Unterkochen und einige auch Richtung Ort. Frau Elsbeth Scheerer erinnert sich, daß einige, bei denen ein Pfarrer war, in der Mühle auftauchten. Diesem gab sie einen Laib Brot, das in der Mühle verteilt wurde.
Frau Scheerer glaubt sich ferner daran zu erinnern, daß ein Teil der Geflüchteten mit dem Pfarrer wieder Richtung Zug wegging, während andere, die sich im »Ausding«, wo die Knechte wohnten, und im Stall versteckt hatten, von den Knechten einfache Kleidung bekamen und dann weiterflüchteten. Einige seien, noch in Sträflingskleidung, weiter Richtung Ort. Dort habe jemand geschrien »verschwindet, verschwindet, laßt Euch ja nicht sehen«.
Als dieser Bericht schon abgeschlossen war, meldete sich Frau Hermine Blume geb. Betzler. Ihr Vater, Eugen Betzler, war zu dieser Zeit Amtsbote, »Büttel«, wie die Alten sagten. Die Familie wohnte »hinten hinaus« im Alten Rathaus (!), ebenerdig. Dort tauchten 3 KZ-Häftlinge in Sträflingskleidung auf. Sie wurden von der Familie in einer zum Rathaus gehörenden Rumpelkammer, die weiter nicht genutzt wurde, versteckt und mit Nahrung und vor allem mit unverfänglicher Kleidung versorgt. Als der Zug dann den Ort verlassen hatte, machten sich auch diese Häftlinge auf die Flucht.
Wer hierzu ergänzende Angaben machen kann, möge mir dies bitte mitteilen (Tel. 7377).
Auch andere Informationen zu diesem Tag, der sich in der Erinnerung der Oberkochener offenbar tief eingegraben hat, sind erbeten. Ein weiterer Bericht ist geplant.
Dietrich Bantel
Nun folgt der Bericht des Luxemburgers Ernst Gillen und der Brief von Herrn Anton Feil aus »Rappel« vom April/Mai Heft 1986, 91. Jahrgang, dem Organ der Kriegsgefangenen und Deportierten von Luxemburg.
So sahen es die anderen …
»Am 1. April (Ostersonntag) wurde auf dem hiesigen Bahnhof ein Häftlingstransport auf der Durchfahrt von Aalen nach Ulm von Tieffliegern beschossen, wobei 8 Häftlinge ums Leben kamen. Dieselben wurden am gleichen Tag von weiteren Insassen des Transportzuges auf dem hiesigen evangelischen Friedhof in einem Massengrab beerdigt. Totenscheine für die Getöteten liegen hier nicht vor. Die Namen der Toten sind hier unbekannt. Erst am 17. Februar 1947 wurden die Toten als 8 unbekannte Insassen eines Konzentrationslagers im hiesigen Sterbebuch eingetragen.«
So steht zu lesen in der Beantwortung einer Anfrage des öffentlichen Anwalts für Wiedergutmachung in Mosbach (Amtsgericht) vom 20. Juli 1949. Diese Antwort des Bürgermeistersamtes Oberkochen (Ostalbkreis, Baden-Württemberg, BRD), deren Text mir auf Initiative des unten näher bezeichneten Herrn Anton Feil durch einen Beamten des genannten Amts mitgeteilt wurde, beschreibt in sachlicher, amtlicher Sprache den Angriff eines Häftlingstransportes, den ich in dem Bericht »D’Enn vun den Niewelager vom K.Z. Natzweiler« (Rappel 1−3÷1985, SS. 171–214, insbesondere SS. 190 und 191) ebenfalls kurz beschrieben habe.
Der genannte Häftlingstransport umfaßte etwa 2000 Häftlinge, eingepfercht in 40 geschlossene Eisenbahnwaggons. Sie kamen aus verschiedenen Nebenlagern des K.Z. Natzweiler, u. a. aus Neckarelz, Heppenheim und Bad Rappenau. Unter ihnen befanden sich, so weit bekannt, 6 (oder 7) Luxemburger: Michel GILSON, Erny HOFFMANN, Nik. SCHUMACHER, Jean WALIN, Aloyse WIES und der Schreiber dieser Zeilen (möglicherweise auch Camille WERDUN). Keiner der Luxemburger wurde verwundet oder getötet bei diesem Angriff, da sich alle im hinteren Teile des Zuges aufhielten, während allein die Lokomotive und die ersten Waggons beschossen wurden. Unter den anderen Insassen des Zuges zählte man 8 Tote und zahlreiche Verletzte.
Bei den Nachforschungen, die ich machte, um verschiedene Einzelfragen zu klären, stieß ich auf einen Augenzeugen, der die fraglichen Ereignisse aus nächster Nähe erlebt hatte. Dieser Augenzeuge, Herr Anton FEIL, pensionierter Eisenbahnbeamter und früherer Leiter des Bahnhofes Oberkochen, hat den Ablauf des Angriffes, die Folgen, die ersten Hilfsmaßnahmen und andere Umstände in einem Briefe vom 10. Februar 1985 mit einer erstaunlichen Ausführlichkeit beschrieben. Der Umstand, daß Herr Feil nach 40 Jahren mit solcher Genauigkeit und soviel Einzelheiten die schicksalsschweren Stunden dieses Ostersonntags schildern kann, beweist, welch tiefen Eindruck diese Ereignisse auf ihn und wahrscheinlich auch auf andere Außenstehende gemacht haben. Herr Feil beschränkt sich nicht nur auf eine nüchterne Beschreibung, sondern teilt auch seine persönlichen Überlegungen mit, so daß man sich auf Grund seines Schreibens ein Bild der Ereignisse machen kann, das auch den Gesichtspunkten von Nichtbeteiligten Rechnung trägt. Da bei den meisten Erlebnissen der K.Z.-Häftlinge die Meinungen der Unbeteiligten, oder dritter Personen, z. B. von der zufällig anwesenden deutschen Bevölkerung, den Häftlingen unbekannt geblieben sind, glaube ich annehmen zu dürfen, daß vorgenannter Brief des Herrn Feil einen größeren Leserkreis interessiert und ich lasse ihn hier deshalb in extenso folgen:
Sehr geehrter Herr Gillen!
Ihr Schreiben vom 22.1.85 wurde heute vom Bahnhof Oberkochen an mich weitergeleitet, da ich von dem damaligen Bahnhofspersonal hier noch alleine bin, der diesen Angriff am Ostersonntag den 1. April 1945 mit erlebte. Zuerst zu meiner Person. In der fraglichen Zeit war ich im Fahrleiterdienst am Bahnhof Oberkochen tätig und war gleichzeitig Vertreter des Vorstehers bis 1948. Ab diesem Jahr wurde mir die Leitung des Bahnhofs übertragen, die ich bis zum 31.12.1975 (Pensionierung) innehatte. Von dem gesamten damaligen Personal ist mir niemand bekannt oder noch am Leben, der mich in meiner Schilderung unterstützen könnte. So will ich versuchen, den Hergang, wie ich ihn noch in Erinnerung habe, zu schildern. Ich selbst hatte vom 31. 2. / 1. 4. Nachtdienst. Die Züge, die nicht der Personenbeförderung dienten, wurden wegen der weithin sichtbaren Rauchentwicklung (Dampflok) bei Nacht abgefertigt. So kam ich am 1.4. morgens gegen 7.00 Uhr nach Hause. Ich wohnte damals noch in der Ortsmitte — Es war gegen 11.00 Uhr, als ich Flugzeuge hörte und sah auch, wie sie eine Schleife um den Ort flogen, weil sie vermutlich den Zug entdeckt hatten. Der Angriff kam dann von Westen her und es war mir sofort klar, daß der Beschuß einem Zug galt.
(Zu dieser Zeit hatten wir ja fast täglich Flugzeugbesuch durch Jabo, die mit Marokkanern besetzt waren. Man nannte sie Rotschwänzchen, die auch Zettel abwarfen mit der Aufschrift: »Wir sind die lustigen Acht und kommen bei Tag und bei Nacht«. Sie flogen je zu vieren und hatten das Gebiet Stuttgart — Ulm — Aalen stets unter Kontrolle.)
Nach Abflug der Jabo begab ich mich sofort zum Bahnhof. Ich weiß auch noch, wie mein Vorstand völlig fertig und ratlos war und ich übernahm dann seinen Dienst. Alles war ein völliges Durcheinander und es sah sehr schlimm aus. Die Lok, die mit dem Zug zwischen Bahnhofsgebäude und Güterschuppen zu stehen kam, war durchsiebt und dampfte aus den Einschüssen. Der Zug war erst zur Hälfte in den Bahnhof eingefahren und stand mit seiner größeren Hälfte noch hinter der Einfahrweiche. Warum dieser Zug am hellen Tage auf die Strecke geschickt wurde, kann ich mir nicht erklären. Der Bahnhof Aalen hatte zuvor schon einige Bombenangriffe erlitten und wollte natürlich den Zug loswerden, um ihn mindestens bis zum Tunnel (zwischen Oberkochen und Heidenheim) zu bringen.
Auf dem Bahnsteig war nun alles voller Sträflinge, die teilweise verletzt waren. Andere bargen Schwerverletzte aus den G‑Waggons (es waren lauter gedeckte Wagen — Viehwagen, wie Sie richtig schreiben), und legten sie auf Gepäckhandkarren oder auf den Bahnsteig. Zum Glück war auch ein junger Militärarzt bald zur Stelle, der zum Lazarett Heidenheim gehörte und vermutlich zufällig in Oberkochen war. Er nahm sich gleich der Verletzten an und führte auch Amputationen durch. Da er ja nicht viel bei sich hatte, halfen wir mit unserem Rettungskasten, Wasser und Tüchern aus.
Es waren aus diesem Zug 8 Tote, die auf dem Gepäckhandkarren mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung zum ev. Friedhof gebracht und dort bestattet wurden. Nationalität oder Herkunft der Toten konnte nicht festgestellt werden und ist auch hier auf dem Rathaus nicht bekannt. — Vermutlich trugen sie auch keine Erkennungsmarken. — Von den Sträflingen türmten viele in den Wald oberhalb des Bahnhofs oder in den Ort. An der Außenwand des Bahnhofs war damals noch ein Brunnen mit der Aufschrift »Trinkwasser«. Ich weiß noch genau, wie einige der Gefangenen mit ihren Eßnäpfen Wasser entnehmen wollten, was aber von dem den Zug begleitenden SS-Offizier sehr scharf verweigert wurde. Dieser Mann, ca. 1,85 groß, hagere Gestalt mit recht ruppigem Gesicht, schwang dauernd seine Reitpeitsche und hatte einen großen Hund (Ulmer Dogge) bei sich. Er patrouillierte dauernd dort hin und her, so daß auch wir keine Möglichkeit hatten, den Leuten Wasser zukommen zu lassen. (Dieses Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen!) In der Zwischenzeit hatte ich sofort eine Ersatzlok angefordert, was natürlich eine geraume Zeit dauerte. Gegen 14.30 Uhr war es dann soweit. Die Ersatzlok war am Zug und nahezu abfahrbereit. Zum gleichen Zeitpunkt war ein Flugzeug zu hören und alles stürmte wieder aus den Waggons in alle Richtungen. Es war aber ein deutscher Jäger — ja wirklich ein deutscher! — was man ja nicht wissen konnte, aber alles war schon durcheinander. Dann gegen 16.00 Uhr hatten die 2 oder 3 Soldaten, die als Zugbegleiter dabei waren, die Leute — ob es alle waren, wissen wir nicht — wieder im Zug und wir konnten den Zug weiterleiten.
Es sind Bilder, die sich eben doch sehr stark eingeprägt haben. So fanden wir im Gleis einen Eßnapf aus diesem Zug, der als Leimtopf (zum Bekleben der Gepäck- und Expressgüter) lange Jahre diente. Auch den Blick ins Innere der Waggons vergesse ich nicht. Einige Gefangene kauerten noch in der Ecke, Essnäpfe lagen herum und da und dort lagen Stücke von Kohlrüben. Es waren allerlei Menschen und Rassen. Auch Neger sah ich bei diesem Transport.
Erwähnen möchte ich noch, daß die beigefügte Skizze recht gut ist. Die eingezeichneten Blechrollen gehören zu dem hiesigen Zweigwerk des Röchling-Konzerns Völklingen und es ist dort, wo die letzten Wagen des Zuges etwa zu stehen kamen.
Ich möchte zuerst auf den allgemein angenehmen und sachlichen Ton des Briefes hinweisen, sowie auf die so rasche und umfassende Beantwortung der aufgeworfenen Fragen. Des weiteren erlaubte es dieser Brief, in erster Linie den Ort der Ereignisse, über welchen bei den beteiligten Häftlingen bis dahin bloß Mutmaßungen bestanden, mit Sicherheit und Genauigkeit festzustellen. Ferner wurden alle mir bekannten Einzelheiten durch diesen Brief bestätigt (Datum, Zeit, nähere Umstände, Ortslage usw.). Einige kleine, unbedeutende Widersprüche konnten in weiterer Korrespondenz geklärt werden. So gibt Herr Feil z. B. in einem späteren Schreiben zu, daß »der Beschuß des Zuges nicht von den »Lustigen Acht«, sondern von 3 etwas stärkeren Flugzeugen ausgeführt wurde«, wie dies auch aus den Häftlingsaussagen hervorging. Herr Feil glaubte auch, Neger unter den Häftlingen dieses Transportes gesehen zu haben. Es ist anzunehmen, daß es sich bei diesen »Negern« um gelblich-dunkel-häutige »Muselmänner« handelte, die er in einer düsteren Waggonecke liegen sah. Welcher »Zivilist« wußte nämlich damals um das Bestehen dieser »Muselmänner«, die, aus einiger Entfernung von einem Uneingeweihten flüchtig erblickt, leicht als etwas »helle« Neger angesehen werden konnten?
Der Brief des Herrn Anton Feil liefert ebenfalls eine Reihe von bisher unbekannten Einzelheiten. Mit seiner Hilfe konnte z. B. die Länge des Zuges und damit die ungefähre Anzahl der Häflinge festgestellt werden, sowie insbesondere das Schicksal der Toten und die Ereignisse, die sich nicht vor den Augen der Häftlinge abspielten. Zu beachten ist auch, daß dieser Brief zur Feststellung der Verantwortlichkeiten beiträgt. Während die beteiligten Häftlinge von Anfang an von dem guten Glauben der Angreifer überzeugt waren — sie sind überzeugt, daß die Piloten sofort nach Erkennen der Insassen des Zuges den Angriff abgebrochen haben — erwähnt Herr Feil diese Fakten nicht, gibt aber seiner Verwunderung Ausdruck, daß dieser Zug überhaupt am hellen Tage auf die Strecke geschickt wurde. Dadurch zeigte er auf die Verantwortung hin, die der deutschen Seite, wahrscheinlich dem verantwortlichen Transportleiter, einem SS-Offizier, an diesen traurigen Ereignissen zufällt.
Der Umstand, daß Häftlinge durch einen Militärarzt behandelt wurden und daß sogar Amputationen vorgenommen wurden, ist den von mir befragten Häftlingen nicht bekannt, doch besteht kein Grund anzunehmen, dieser Teil des Berichtes entspräche nicht der Wahrheit. Die Möglichkeit bestand immerhin, daß diese Behandlungen ohne Beiwohnen mir bekannter Häftlinge geschehen oder auch an verwundeten Wachmannschaften vorgenommen wurden. Der Eingriff eines Militärarztes bei Häftlingen würde auf jeden Fall eine auffallende Ausnahme darstellen und im übrigen die Gegensätze illustrieren, die zwischen SS- und Wehrmachtmentalität bestanden. Interessant ist ebenfalls, daß dieser Militärarzt einem Lazarett von Heidenheim angehörte, während sich zur selben Zeit ein aus Obernai ausgewichenes Außenkommando vom K.Z. Natzweiler ebenfalls in Heidenheim, in einer früheren Polizeischule aufhielt. Sollte dieser Militärarzt in Heidenheim die Gelegenheit gehabt haben, das Schicksal der K.Z.-Häftlinge näher kennenzulernen und sich auf ihre Seite zu schlagen?
Aus der ganzen Beschreibung des Herrn Feil ergibt sich der Eindruck, daß die Bewachung, das Zug- und Bahnhofspersonal die anderen Helfer sich korrekt gegenüber den Häftlingen benommen haben. Einzige Ausnahme: der SS-Offizier, der sich unangenehm in der Erinnerung des Augenzeugen festsetzte. Man kann annehmen, daß Herr Feil diesen Eindruck hervorrufen wollte. Persönlich bin ich auch überzeugt, daß die Lage so war, wie er sie schildert. Alle andern überlebenden Häftlinge, mit denen ich über diese Ereignisse sprach, hatten nämlich denselben Eindruck. Auch die nachweisbar anständige Behandlung der Toten zeigt in diese Richtung.
So wie Herr Anton Feil in seinem Briefe angibt, verursachte der Angriff 8 Tote. Sieben von diesen Toten waren Häftlinge, der 8. war ein »unbekannter Deutscher«, ob Häftling oder Mitglied der Wachmannschaften oder ein anderer Deutscher, bleibt unklar. Die 8 Toten wurden ohne Särge in dem evangelischen Friedhof von Oberkochen begraben; warum sie nicht in dem näher gelegenen katholischen Friedhof bestattet wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.
Nach dem Kriege konnten aufgrund der Aussagen von Häftlingen und besonderer Merkmale zwei der Toten identifiziert werden. Es handelte sich um die Franzosen Firmin SOUCAZE DES SOUCAZES und Jean-Jacques PERAULT. Nachdem die Ausgrabung der Toten zuerst auf einen harten Widerstand der Evangelischen Kirchengemeinde gestoßen war, konnten diese beiden Toten schließlich, auf Drängen der französischen Besatzungsautoritäten, erst am 10. und 11. Juni 1953 exhumiert werden. Diese Leichen wurden daraufhin von der französischen Militärverwaltung mit anderen in dieser Gegend umgekommenen französischen Staatsangehörigen nach Frankreich überführt. Bei derselben Gelegenheit wurde ein dritter Toter als »unbekannter Deutscher« identifiziert, — aufgrund welcher Merkmale oder Angaben, ist mir nicht bekannt — und getrennt von den andern Opfern des Angriffs in einem Einzelgrab auf demselben Friedhof neu beerdigt. Die restlichen 5 toten Häftlinge, deren Identität wohl für immer unbekannt bleiben wird, wurden definitiv in einem Sammelgrab auf genanntem Friedhof bestattet.
Ein Gedenkstein auf einem blumengeschmückten und dezent eingefaßten Grabe erinnert an diese 5 unbekannten Opfer. Dieses Grab, sowie verschiedene andere, in denen »Fremdarbeiter« bestattet wurden, werden, laut Bericht des oben erwähnten Beamten der Stadtverwaltung Oberkochen, »voll der Stadt laufend in Angaben aber würdiger Weise gepflegt und geschmückt«. Daß diese Mitteilung den Tatsachen entspricht und nicht übertrieben ist, zeigt das unten abgedruckte Bild, das mir ebenfalls Herr Anton Feil zukommen ließ.
Sieben oder acht unserer Kameraden mußten hier in dieser stillen Landgemeinde von Oberkochen ihr Leben lassen. Auf der gezwungenen Flucht vor ihren Befreiern wurden sie die Opfer der Kriegshandlungen in einem Augenblicke, als die Freiheit schon so nahe schien. Drei dieser Toten ruhen nun in heimatlicher Erde. Fünf frühere Kameraden, deren Namen sogar ihren damaligen Leidensgenossen unbekannt sind, liegen auch jetzt noch in diesem fremden Boden, neben einem unbekannten Deutschen, ihrem früheren Kameraden oder vielleicht auch ihrem Bewacher und Peiniger. Diese Zeilen sollen dazu beitragen, daß auch sie nicht vergessen werden, nicht bei ihren Kameraden und auch nicht bei jenen, die ihre Grabstätte hüten.
Erny GILLEN