Selten hat ein Bericht so viel Aufmerk­sam­keit und Reaktio­nen ausge­löst wie unser Bericht 177, der die Opfer des Flieger­an­griffs auf einen KZ-Häftlings-Trans­port beim Oberko­che­ner Bahnhof zum Gegen­stand hatte. Bei mir melde­ten sich 3 weite­re Augen­zeu­gen des Gesche­hens, Herr Sepp Bauer, Herr Hermann Schim­mel und Herr Anton Feil. Herr Bauer war seiner­zeit als ein Junge zwischen 13 und 14 Jahren unmit­tel­bar nach dem Angriff zuhau­se ausge­büchst und war die ganze Zeit bis zur Weiter­fahrt des Zugs aus Neugier im Bereich des Bahnge­län­des »herum­ge­stri­chen«. Herr Schim­mel war als 19jähriger junger Mann kriegs­ver­wun­det im Schnait­hei­mer Lazarett statio­niert und durfte gegen Ende des Aufent­halts übers Wochen­en­de heim nach Oberko­chen, wohin er, und zurück zum Lazarett, zu Fuß ging. Er befand sich auf einem Spazier­gang auf der Rodhal­de genau über dem Bahnhofs­ge­län­de und bekam von dort aus den Angriff von der ersten Sekun­de an direkt mit. Herr Feil war schon seit 1939 im Fahrlei­ter­dienst beim Bahnhof Oberko­chen und gleich­zei­tig Vertre­ter des Vorste­hers Barth. Er kam, wie Herr Bauer, unmit­tel­bar nach dem Angriff zum Bahnhof und bekam die Sache hautnah mit. Im Jahr 1985 wurde er von einem der KZ-Häftlin­ge, einem Herrn Ernest Gillen aus Luxem­burg, der Trans­port und den Krieg überlebt hat, angeschrie­ben und um eine Hergangs­schil­de­rung gebeten, die er in aller Ausführ­lich­keit verfaß­te. Da diese Schil­de­rung eine Reihe von bisher unklar Geblie­be­nem aufklärt und sich bis zur letzten Zeile spannend liest, drucken wir sie in unserem heuti­gen Bericht ab. Sie wurde in der luxem­bur­gi­schen Ausga­be von »Rappel« (Erinne­rung), einer regel­mä­ßig erschei­nen­den Schrift des luxem­bur­gi­schen Verban­des ehema­li­ger Kriegs­ge­fan­ge­ner und KZ-Häftlin­ge im Jahr 1986 abgedruckt.

Zunächst jedoch noch einige Anmer­kun­gen der 3 genann­ten Augen­zeu­gen:
Alle 3 Zeugen demen­tier­ten, wie Herr Dr. Sußmann, Frau Bäuerle und Frau Schoch dies bereits in unserem Bericht 177 getan haben, überein­stim­mend in aller Schär­fe die Berich­te, die in dem Heimat­ge­schicht­li­chen Wegwei­ser zu Stätten des Wider­stands und der Verfol­gung 1933 — 1945 vom Studi­en­kreis Deutscher Wider­stand abgedruck­ten »Aussa­gen von Zeitzeu­gen«, nach welchen in Oberko­chen die Rede von angeb­lich 70 bis 80 Opfern des Flieger­an­griffs die Rede ist. Dagegen bestä­tig­ten auch diese Zeugen, daß eine große Anzahl von KZ-Häftlin­gen unmit­tel­bar nach dem Angriff über die Rodhal­de und auch Richtung Unter­ko­chen und Ort Oberko­chen geflo­hen sind.

Herr Schim­mel schließt nicht aus, daß der Grund für dieses Gerücht eine Verwechs­lung mit der Zahl der Geflo­he­nen ist. Jeden­falls beobach­te­te er, daß, nachdem die Lokomo­ti­ve des aus Aalen kommen­den und Richtung Bahnhof Oberko­chen fahren­den Zuges von den tiefflie­gen­den Jabos (Jagdbom­ber) getrof­fen war, der Zug ausroll­te, und daß, noch ehe der Zug zum Halten gekom­men war, zahlrei­che Häftlin­ge vom noch fahren­den Zug abspran­gen und sich sofort haupt­säch­lich Richtung Rodhal­de aufmach­ten. Sie suchten Schutz in den Hecken und benutz­ten den Trampel­pfad, der etwa vom heuti­gen Haus Mannes aus den Hang hinauf­führ­te (»s’Goißawea­gle«). Die Fliehen­den seien auf ihn zugekom­men und hätten, als sie ihn in Uniform entdeck­ten, Angst gezeigt, — er habe sie Richtung Wald »weiter­ge­wun­ken« und sei dann zum Bahnhof hinab, ist dort von einem Wachpos­ten angemotzt worden und dann weiter­ge­gan­gen. Die Zahl der Geflo­he­nen gab Herr Schim­mel mit »mindes­tens 70« an, so daß die oben genann­te Verwechs­lung möglich erscheint. Es wurde bezeugt, daß man einigen der Geflo­he­nen im Ort Zivil­klei­dung gegeben habe; was jedoch aus den getürm­ten KZ-Häftlin­gen gewor­den ist, ist nicht bekannt. Fest steht, daß schon das Ausstat­ten der Häftlin­ge mit Zivil­klei­dung bei Bekannt­wer­den den Tod der Flucht­hel­fer nach sich gezogen hätte.

Ehe wir den Bericht von Herrn Feil bringen, möchten wir eine andere Uneben­heit aufklä­ren. Im Bericht des Studi­en­krei­ses Deutscher Wider­stand ist davon die Rede, daß die Opfer des Angriffs »etwas abseits« beigesetzt worden sind. Tatsäch­lich sind sie außer­halb des ev. Fried­hofs beigesetzt worden. Das Grab kam erst mit der Fried­hofs­er­wei­te­rung inner­halb dessel­ben zu liegen. Bemer­kens­wert in diesem Zusam­men­hang ist, daß die Opfer nicht auf dem direkt beim Bahngleis gelege­nen kath. Fried­hof beigesetzt werden konnten oder durften. Eine weite­re Ungereimt­heit stellt Herr Anton Feil in seinem Bericht, der sich auf Angaben der Stadt­ver­wal­tung stützt, klar, nämlich die Frage, weshalb von den insge­samt 8 Opfern nur 5 auf dem ev. Fried­hof bestat­tet liegen.

Einer bislang ungeklär­ten Frage bin ich nachge­gan­gen: Was ist aus den vielen Häftlin­gen gewor­den, denen es gelang, die Situa­ti­on zu einer Flucht zu nützen, und wer hat ihnen weiter­ge­hol­fen. Fest steht, daß die meisten Häftlin­ge über die Rodhal­de Richtung Härts­feld flohen. Andere sind Richtung Unter­ko­chen und einige auch Richtung Ort. Frau Elsbeth Schee­rer erinnert sich, daß einige, bei denen ein Pfarrer war, in der Mühle auftauch­ten. Diesem gab sie einen Laib Brot, das in der Mühle verteilt wurde.

Frau Schee­rer glaubt sich ferner daran zu erinnern, daß ein Teil der Geflüch­te­ten mit dem Pfarrer wieder Richtung Zug wegging, während andere, die sich im »Ausding«, wo die Knech­te wohnten, und im Stall versteckt hatten, von den Knech­ten einfa­che Kleidung bekamen und dann weiter­flüch­te­ten. Einige seien, noch in Sträf­lings­klei­dung, weiter Richtung Ort. Dort habe jemand geschrien »verschwin­det, verschwin­det, laßt Euch ja nicht sehen«.

Als dieser Bericht schon abgeschlos­sen war, melde­te sich Frau Hermi­ne Blume geb. Betzler. Ihr Vater, Eugen Betzler, war zu dieser Zeit Amtsbo­te, »Büttel«, wie die Alten sagten. Die Familie wohnte »hinten hinaus« im Alten Rathaus (!), ebenerdig. Dort tauch­ten 3 KZ-Häftlin­ge in Sträf­lings­klei­dung auf. Sie wurden von der Familie in einer zum Rathaus gehören­den Rumpel­kam­mer, die weiter nicht genutzt wurde, versteckt und mit Nahrung und vor allem mit unver­fäng­li­cher Kleidung versorgt. Als der Zug dann den Ort verlas­sen hatte, machten sich auch diese Häftlin­ge auf die Flucht.

Wer hierzu ergän­zen­de Angaben machen kann, möge mir dies bitte mittei­len (Tel. 7377).
Auch andere Infor­ma­tio­nen zu diesem Tag, der sich in der Erinne­rung der Oberko­che­ner offen­bar tief einge­gra­ben hat, sind erbeten. Ein weite­rer Bericht ist geplant.

Dietrich Bantel

Nun folgt der Bericht des Luxem­bur­gers Ernst Gillen und der Brief von Herrn Anton Feil aus »Rappel« vom April/Mai Heft 1986, 91. Jahrgang, dem Organ der Kriegs­ge­fan­ge­nen und Depor­tier­ten von Luxemburg.

So sahen es die anderen …
»Am 1. April (Oster­sonn­tag) wurde auf dem hiesi­gen Bahnhof ein Häftlings­trans­port auf der Durch­fahrt von Aalen nach Ulm von Tiefflie­gern beschos­sen, wobei 8 Häftlin­ge ums Leben kamen. Diesel­ben wurden am gleichen Tag von weite­ren Insas­sen des Trans­port­zu­ges auf dem hiesi­gen evange­li­schen Fried­hof in einem Massen­grab beerdigt. Toten­schei­ne für die Getöte­ten liegen hier nicht vor. Die Namen der Toten sind hier unbekannt. Erst am 17. Febru­ar 1947 wurden die Toten als 8 unbekann­te Insas­sen eines Konzen­tra­ti­ons­la­gers im hiesi­gen Sterbe­buch eingetragen.«

So steht zu lesen in der Beant­wor­tung einer Anfra­ge des öffent­li­chen Anwalts für Wieder­gut­ma­chung in Mosbach (Amtsge­richt) vom 20. Juli 1949. Diese Antwort des Bürger­meis­ters­am­tes Oberko­chen (Ostalb­kreis, Baden-Württem­berg, BRD), deren Text mir auf Initia­ti­ve des unten näher bezeich­ne­ten Herrn Anton Feil durch einen Beamten des genann­ten Amts mitge­teilt wurde, beschreibt in sachli­cher, amtli­cher Sprache den Angriff eines Häftlings­trans­por­tes, den ich in dem Bericht »D’Enn vun den Niewe­la­ger vom K.Z. Natzwei­ler« (Rappel 1−3÷1985, SS. 171–214, insbe­son­de­re SS. 190 und 191) ebenfalls kurz beschrie­ben habe.

Der genann­te Häftlings­trans­port umfaß­te etwa 2000 Häftlin­ge, einge­pfercht in 40 geschlos­se­ne Eisen­bahn­wag­gons. Sie kamen aus verschie­de­nen Neben­la­gern des K.Z. Natzwei­ler, u. a. aus Neckarelz, Heppen­heim und Bad Rappen­au. Unter ihnen befan­den sich, so weit bekannt, 6 (oder 7) Luxem­bur­ger: Michel GILSON, Erny HOFFMANN, Nik. SCHUMACHER, Jean WALIN, Aloyse WIES und der Schrei­ber dieser Zeilen (mögli­cher­wei­se auch Camil­le WERDUN). Keiner der Luxem­bur­ger wurde verwun­det oder getötet bei diesem Angriff, da sich alle im hinte­ren Teile des Zuges aufhiel­ten, während allein die Lokomo­ti­ve und die ersten Waggons beschos­sen wurden. Unter den anderen Insas­sen des Zuges zählte man 8 Tote und zahlrei­che Verletzte.

Bei den Nachfor­schun­gen, die ich machte, um verschie­de­ne Einzel­fra­gen zu klären, stieß ich auf einen Augen­zeu­gen, der die fragli­chen Ereig­nis­se aus nächs­ter Nähe erlebt hatte. Dieser Augen­zeu­ge, Herr Anton FEIL, pensio­nier­ter Eisen­bahn­be­am­ter und frühe­rer Leiter des Bahnho­fes Oberko­chen, hat den Ablauf des Angrif­fes, die Folgen, die ersten Hilfs­maß­nah­men und andere Umstän­de in einem Briefe vom 10. Febru­ar 1985 mit einer erstaun­li­chen Ausführ­lich­keit beschrie­ben. Der Umstand, daß Herr Feil nach 40 Jahren mit solcher Genau­ig­keit und soviel Einzel­hei­ten die schick­sals­schwe­ren Stunden dieses Oster­sonn­tags schil­dern kann, beweist, welch tiefen Eindruck diese Ereig­nis­se auf ihn und wahrschein­lich auch auf andere Außen­ste­hen­de gemacht haben. Herr Feil beschränkt sich nicht nur auf eine nüchter­ne Beschrei­bung, sondern teilt auch seine persön­li­chen Überle­gun­gen mit, so daß man sich auf Grund seines Schrei­bens ein Bild der Ereig­nis­se machen kann, das auch den Gesichts­punk­ten von Nicht­be­tei­lig­ten Rechnung trägt. Da bei den meisten Erleb­nis­sen der K.Z.-Häftlinge die Meinun­gen der Unbetei­lig­ten, oder dritter Perso­nen, z. B. von der zufäl­lig anwesen­den deutschen Bevöl­ke­rung, den Häftlin­gen unbekannt geblie­ben sind, glaube ich anneh­men zu dürfen, daß vorge­nann­ter Brief des Herrn Feil einen größe­ren Leser­kreis inter­es­siert und ich lasse ihn hier deshalb in exten­so folgen:

Sehr geehr­ter Herr Gillen!
Ihr Schrei­ben vom 22.1.85 wurde heute vom Bahnhof Oberko­chen an mich weiter­ge­lei­tet, da ich von dem damali­gen Bahnhofs­per­so­nal hier noch allei­ne bin, der diesen Angriff am Oster­sonn­tag den 1. April 1945 mit erleb­te. Zuerst zu meiner Person. In der fragli­chen Zeit war ich im Fahrlei­ter­dienst am Bahnhof Oberko­chen tätig und war gleich­zei­tig Vertre­ter des Vorste­hers bis 1948. Ab diesem Jahr wurde mir die Leitung des Bahnhofs übertra­gen, die ich bis zum 31.12.1975 (Pensio­nie­rung) innehat­te. Von dem gesam­ten damali­gen Perso­nal ist mir niemand bekannt oder noch am Leben, der mich in meiner Schil­de­rung unter­stüt­zen könnte. So will ich versu­chen, den Hergang, wie ich ihn noch in Erinne­rung habe, zu schil­dern. Ich selbst hatte vom 31. 2. / 1. 4. Nacht­dienst. Die Züge, die nicht der Perso­nen­be­för­de­rung dienten, wurden wegen der weithin sicht­ba­ren Rauch­ent­wick­lung (Dampf­lok) bei Nacht abgefer­tigt. So kam ich am 1.4. morgens gegen 7.00 Uhr nach Hause. Ich wohnte damals noch in der Ortsmit­te — Es war gegen 11.00 Uhr, als ich Flugzeu­ge hörte und sah auch, wie sie eine Schlei­fe um den Ort flogen, weil sie vermut­lich den Zug entdeckt hatten. Der Angriff kam dann von Westen her und es war mir sofort klar, daß der Beschuß einem Zug galt.

(Zu dieser Zeit hatten wir ja fast täglich Flugzeug­be­such durch Jabo, die mit Marok­ka­nern besetzt waren. Man nannte sie Rotschwänz­chen, die auch Zettel abwar­fen mit der Aufschrift: »Wir sind die lusti­gen Acht und kommen bei Tag und bei Nacht«. Sie flogen je zu vieren und hatten das Gebiet Stutt­gart — Ulm — Aalen stets unter Kontrolle.)

Nach Abflug der Jabo begab ich mich sofort zum Bahnhof. Ich weiß auch noch, wie mein Vorstand völlig fertig und ratlos war und ich übernahm dann seinen Dienst. Alles war ein völli­ges Durch­ein­an­der und es sah sehr schlimm aus. Die Lok, die mit dem Zug zwischen Bahnhofs­ge­bäu­de und Güter­schup­pen zu stehen kam, war durch­siebt und dampf­te aus den Einschüs­sen. Der Zug war erst zur Hälfte in den Bahnhof einge­fah­ren und stand mit seiner größe­ren Hälfte noch hinter der Einfahr­wei­che. Warum dieser Zug am hellen Tage auf die Strecke geschickt wurde, kann ich mir nicht erklä­ren. Der Bahnhof Aalen hatte zuvor schon einige Bomben­an­grif­fe erlit­ten und wollte natür­lich den Zug loswer­den, um ihn mindes­tens bis zum Tunnel (zwischen Oberko­chen und Heiden­heim) zu bringen.

Auf dem Bahnsteig war nun alles voller Sträf­lin­ge, die teilwei­se verletzt waren. Andere bargen Schwer­ver­letz­te aus den G‑Waggons (es waren lauter gedeck­te Wagen — Viehwa­gen, wie Sie richtig schrei­ben), und legten sie auf Gepäck­hand­kar­ren oder auf den Bahnsteig. Zum Glück war auch ein junger Militär­arzt bald zur Stelle, der zum Lazarett Heiden­heim gehör­te und vermut­lich zufäl­lig in Oberko­chen war. Er nahm sich gleich der Verletz­ten an und führte auch Amputa­tio­nen durch. Da er ja nicht viel bei sich hatte, halfen wir mit unserem Rettungs­kas­ten, Wasser und Tüchern aus.

Es waren aus diesem Zug 8 Tote, die auf dem Gepäck­hand­kar­ren mit Unter­stüt­zung der Gemein­de­ver­wal­tung zum ev. Fried­hof gebracht und dort bestat­tet wurden. Natio­na­li­tät oder Herkunft der Toten konnte nicht festge­stellt werden und ist auch hier auf dem Rathaus nicht bekannt. — Vermut­lich trugen sie auch keine Erken­nungs­mar­ken. — Von den Sträf­lin­gen türmten viele in den Wald oberhalb des Bahnhofs oder in den Ort. An der Außen­wand des Bahnhofs war damals noch ein Brunnen mit der Aufschrift »Trink­was­ser«. Ich weiß noch genau, wie einige der Gefan­ge­nen mit ihren Eßnäp­fen Wasser entneh­men wollten, was aber von dem den Zug beglei­ten­den SS-Offizier sehr scharf verwei­gert wurde. Dieser Mann, ca. 1,85 groß, hagere Gestalt mit recht ruppi­gem Gesicht, schwang dauernd seine Reitpeit­sche und hatte einen großen Hund (Ulmer Dogge) bei sich. Er patrouil­lier­te dauernd dort hin und her, so daß auch wir keine Möglich­keit hatten, den Leuten Wasser zukom­men zu lassen. (Dieses Gesicht habe ich bis heute nicht verges­sen!) In der Zwischen­zeit hatte ich sofort eine Ersatz­lok angefor­dert, was natür­lich eine gerau­me Zeit dauer­te. Gegen 14.30 Uhr war es dann soweit. Die Ersatz­lok war am Zug und nahezu abfahr­be­reit. Zum gleichen Zeitpunkt war ein Flugzeug zu hören und alles stürm­te wieder aus den Waggons in alle Richtun­gen. Es war aber ein deutscher Jäger — ja wirklich ein deutscher! — was man ja nicht wissen konnte, aber alles war schon durch­ein­an­der. Dann gegen 16.00 Uhr hatten die 2 oder 3 Solda­ten, die als Zugbe­glei­ter dabei waren, die Leute — ob es alle waren, wissen wir nicht — wieder im Zug und wir konnten den Zug weiterleiten.

Es sind Bilder, die sich eben doch sehr stark einge­prägt haben. So fanden wir im Gleis einen Eßnapf aus diesem Zug, der als Leimtopf (zum Bekle­ben der Gepäck- und Express­gü­ter) lange Jahre diente. Auch den Blick ins Innere der Waggons verges­se ich nicht. Einige Gefan­ge­ne kauer­ten noch in der Ecke, Essnäp­fe lagen herum und da und dort lagen Stücke von Kohlrü­ben. Es waren aller­lei Menschen und Rassen. Auch Neger sah ich bei diesem Transport.

Erwäh­nen möchte ich noch, daß die beigefüg­te Skizze recht gut ist. Die einge­zeich­ne­ten Blech­rol­len gehören zu dem hiesi­gen Zweig­werk des Röchling-Konzerns Völklin­gen und es ist dort, wo die letzten Wagen des Zuges etwa zu stehen kamen.

Ich möchte zuerst auf den allge­mein angeneh­men und sachli­chen Ton des Briefes hinwei­sen, sowie auf die so rasche und umfas­sen­de Beant­wor­tung der aufge­wor­fe­nen Fragen. Des weite­ren erlaub­te es dieser Brief, in erster Linie den Ort der Ereig­nis­se, über welchen bei den betei­lig­ten Häftlin­gen bis dahin bloß Mutma­ßun­gen bestan­den, mit Sicher­heit und Genau­ig­keit festzu­stel­len. Ferner wurden alle mir bekann­ten Einzel­hei­ten durch diesen Brief bestä­tigt (Datum, Zeit, nähere Umstän­de, Ortsla­ge usw.). Einige kleine, unbedeu­ten­de Wider­sprü­che konnten in weite­rer Korre­spon­denz geklärt werden. So gibt Herr Feil z. B. in einem späte­ren Schrei­ben zu, daß »der Beschuß des Zuges nicht von den »Lusti­gen Acht«, sondern von 3 etwas stärke­ren Flugzeu­gen ausge­führt wurde«, wie dies auch aus den Häftlings­aus­sa­gen hervor­ging. Herr Feil glaub­te auch, Neger unter den Häftlin­gen dieses Trans­por­tes gesehen zu haben. Es ist anzuneh­men, daß es sich bei diesen »Negern« um gelblich-dunkel-häuti­ge »Musel­män­ner« handel­te, die er in einer düste­ren Waggon­ecke liegen sah. Welcher »Zivilist« wußte nämlich damals um das Bestehen dieser »Musel­män­ner«, die, aus einiger Entfer­nung von einem Unein­ge­weih­ten flüch­tig erblickt, leicht als etwas »helle« Neger angese­hen werden konnten?

Der Brief des Herrn Anton Feil liefert ebenfalls eine Reihe von bisher unbekann­ten Einzel­hei­ten. Mit seiner Hilfe konnte z. B. die Länge des Zuges und damit die ungefäh­re Anzahl der Häflin­ge festge­stellt werden, sowie insbe­son­de­re das Schick­sal der Toten und die Ereig­nis­se, die sich nicht vor den Augen der Häftlin­ge abspiel­ten. Zu beach­ten ist auch, daß dieser Brief zur Feststel­lung der Verant­wort­lich­kei­ten beiträgt. Während die betei­lig­ten Häftlin­ge von Anfang an von dem guten Glauben der Angrei­fer überzeugt waren — sie sind überzeugt, daß die Piloten sofort nach Erken­nen der Insas­sen des Zuges den Angriff abgebro­chen haben — erwähnt Herr Feil diese Fakten nicht, gibt aber seiner Verwun­de­rung Ausdruck, daß dieser Zug überhaupt am hellen Tage auf die Strecke geschickt wurde. Dadurch zeigte er auf die Verant­wor­tung hin, die der deutschen Seite, wahrschein­lich dem verant­wort­li­chen Trans­port­lei­ter, einem SS-Offizier, an diesen trauri­gen Ereig­nis­sen zufällt.

Der Umstand, daß Häftlin­ge durch einen Militär­arzt behan­delt wurden und daß sogar Amputa­tio­nen vorge­nom­men wurden, ist den von mir befrag­ten Häftlin­gen nicht bekannt, doch besteht kein Grund anzuneh­men, dieser Teil des Berich­tes entsprä­che nicht der Wahrheit. Die Möglich­keit bestand immer­hin, daß diese Behand­lun­gen ohne Beiwoh­nen mir bekann­ter Häftlin­ge gesche­hen oder auch an verwun­de­ten Wachmann­schaf­ten vorge­nom­men wurden. Der Eingriff eines Militär­arz­tes bei Häftlin­gen würde auf jeden Fall eine auffal­len­de Ausnah­me darstel­len und im übrigen die Gegen­sät­ze illus­trie­ren, die zwischen SS- und Wehrmacht­ment­a­li­tät bestan­den. Inter­es­sant ist ebenfalls, daß dieser Militär­arzt einem Lazarett von Heiden­heim angehör­te, während sich zur selben Zeit ein aus Obernai ausge­wi­che­nes Außen­kom­man­do vom K.Z. Natzwei­ler ebenfalls in Heiden­heim, in einer frühe­ren Polizei­schu­le aufhielt. Sollte dieser Militär­arzt in Heiden­heim die Gelegen­heit gehabt haben, das Schick­sal der K.Z.-Häftlinge näher kennen­zu­ler­nen und sich auf ihre Seite zu schlagen?

Aus der ganzen Beschrei­bung des Herrn Feil ergibt sich der Eindruck, daß die Bewachung, das Zug- und Bahnhofs­per­so­nal die anderen Helfer sich korrekt gegen­über den Häftlin­gen benom­men haben. Einzi­ge Ausnah­me: der SS-Offizier, der sich unange­nehm in der Erinne­rung des Augen­zeu­gen festsetz­te. Man kann anneh­men, daß Herr Feil diesen Eindruck hervor­ru­fen wollte. Persön­lich bin ich auch überzeugt, daß die Lage so war, wie er sie schil­dert. Alle andern überle­ben­den Häftlin­ge, mit denen ich über diese Ereig­nis­se sprach, hatten nämlich densel­ben Eindruck. Auch die nachweis­bar anstän­di­ge Behand­lung der Toten zeigt in diese Richtung.

So wie Herr Anton Feil in seinem Briefe angibt, verur­sach­te der Angriff 8 Tote. Sieben von diesen Toten waren Häftlin­ge, der 8. war ein »unbekann­ter Deutscher«, ob Häftling oder Mitglied der Wachmann­schaf­ten oder ein anderer Deutscher, bleibt unklar. Die 8 Toten wurden ohne Särge in dem evange­li­schen Fried­hof von Oberko­chen begra­ben; warum sie nicht in dem näher gelege­nen katho­li­schen Fried­hof bestat­tet wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nach dem Kriege konnten aufgrund der Aussa­gen von Häftlin­gen und beson­de­rer Merkma­le zwei der Toten identi­fi­ziert werden. Es handel­te sich um die Franzo­sen Firmin SOUCAZE DES SOUCAZES und Jean-Jacques PERAULT. Nachdem die Ausgra­bung der Toten zuerst auf einen harten Wider­stand der Evange­li­schen Kirchen­ge­mein­de gesto­ßen war, konnten diese beiden Toten schließ­lich, auf Drängen der franzö­si­schen Besat­zungs­au­tori­tä­ten, erst am 10. und 11. Juni 1953 exhumiert werden. Diese Leichen wurden darauf­hin von der franzö­si­schen Militär­ver­wal­tung mit anderen in dieser Gegend umgekom­me­nen franzö­si­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen nach Frank­reich überführt. Bei dersel­ben Gelegen­heit wurde ein dritter Toter als »unbekann­ter Deutscher« identi­fi­ziert, — aufgrund welcher Merkma­le oder Angaben, ist mir nicht bekannt — und getrennt von den andern Opfern des Angriffs in einem Einzel­grab auf demsel­ben Fried­hof neu beerdigt. Die restli­chen 5 toten Häftlin­ge, deren Identi­tät wohl für immer unbekannt bleiben wird, wurden defini­tiv in einem Sammel­grab auf genann­tem Fried­hof bestattet.

Ein Gedenk­stein auf einem blumen­ge­schmück­ten und dezent einge­faß­ten Grabe erinnert an diese 5 unbekann­ten Opfer. Dieses Grab, sowie verschie­de­ne andere, in denen »Fremd­ar­bei­ter« bestat­tet wurden, werden, laut Bericht des oben erwähn­ten Beamten der Stadt­ver­wal­tung Oberko­chen, »voll der Stadt laufend in Angaben aber würdi­ger Weise gepflegt und geschmückt«. Daß diese Mittei­lung den Tatsa­chen entspricht und nicht übertrie­ben ist, zeigt das unten abgedruck­te Bild, das mir ebenfalls Herr Anton Feil zukom­men ließ.

Sieben oder acht unserer Kamera­den mußten hier in dieser stillen Landge­mein­de von Oberko­chen ihr Leben lassen. Auf der gezwun­ge­nen Flucht vor ihren Befrei­ern wurden sie die Opfer der Kriegs­hand­lun­gen in einem Augen­bli­cke, als die Freiheit schon so nahe schien. Drei dieser Toten ruhen nun in heimat­li­cher Erde. Fünf frühe­re Kamera­den, deren Namen sogar ihren damali­gen Leidens­ge­nos­sen unbekannt sind, liegen auch jetzt noch in diesem fremden Boden, neben einem unbekann­ten Deutschen, ihrem frühe­ren Kamera­den oder vielleicht auch ihrem Bewacher und Peini­ger. Diese Zeilen sollen dazu beitra­gen, daß auch sie nicht verges­sen werden, nicht bei ihren Kamera­den und auch nicht bei jenen, die ihre Grabstät­te hüten.

Erny GILLEN

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