Kein »rundes Jahr«, kein Jubilä­ums­jahr, ein ganz norma­les Jahr also, dieses Jahr 1898, zwei Jahre vor der Jahrhun­dert­wen­de? Keines­wegs, denn am 8. März jenes Jahres wurde die alte Oberko­che­ner barocki­sier­te Kirche abgeris­sen, um einem Neubau Platz zu machen. Nur der Turm blieb stehen. Darüber wurde schon verschie­dent­lich berich­tet (Oberko­che­ner Heimat­buch S. 40 u. f., HVO-Bericht Nr. 35 und Nr. 72). Nun sind aber einige neue Aspek­te aufge­taucht: Zusam­men mit einem erst vor einiger Zeit wieder­ent­deck­ten berühm­ten Oberko­che­ner — Anton Balluff, König­li­cher Hofopern- und Kammer­sän­ger in Stutt­gart — wird, bislang wenig beach­tet, der Oberko­che­ner Lehrer Schnei­der ins Licht der Öffent­lich­keit gerückt, da sich beide um die Finan­zie­rung des Neubaus verdient gemacht hatten.

Der Anlaß war ein Wohltä­tig­keits­kon­zert zuguns­ten des Kirch­baus, das am 2. Oktober 1898 im Sprit­zen­haus­saal in Aalen statt­fand (in Oberko­chen war kein Saal entspre­chen­der Größe vorhan­den). Stargast und Publi­kums­ma­gnet — die Besucher kamen sogar aus Gmünd und Ellwan­gen — war Anton Balluff, 1. Helden­te­nor der Stutt­gar­ter Oper. Zur Einstim­mung auf dieses Konzert und um den Bezug zu Oberko­chen und den genann­ten Zweck herzu­stel­len, verfaßt Lehrer Schnei­der ein Gedicht, das er selbst vortrug:

Prolog
»Seid mir gegrüßt in diesen festli­chen Hallen,
Wo oft des Sanges Melodien erschal­len,
Gegrüßt seid, edle Männer, holde Frauen,
Was euch hier eint, ist nicht eitel Schau­en:
Ein edles Werk es ist, ihr schaf­fet freund­lich gern
So manchen Baustein her zu einem Haus des Herrn.
O hört’s ihr alle, die ihr nun hier weilet:
Aus Stutt­gart ist herbei geeilet
Des Sanges Meister, und zu seiner Stimme Klang
Tönt einer Nachti­gall herrli­cher Sang,
Des Lieder­kran­zes ernst­freu­di­ge volle Chöre,
Der Bergka­pel­le Rauschen Gott zur Ehre.

Dort wo in breiten Berges Kessel
Die Quelle sprengt der Felsen Fessel,
Entei­lend taten­lo­sem Träumen
Sich überstürzt in brausend Schäu­men
Des Kochers Wasser klar und hell,
Wo herrscht in hoher Berge Schar
Der Volkmars­berg, jetzt turmge­krönt,
Wo Rotsteins Kreuz die Höh’ verschönt,
Wo leicht in seinen Silber­strei­fen
Durchs Tal geschwät­z’­ge Wellen schwei­fen
Und so umsäumt von des Waldes Grün
Im Wiesen­grund Floras Kinder blühn,
Dort streckt sich ein freund­lich schöner Flecken
Am Fuße waldbe­grenz­ter Berge Recken:
Oberko­chen — wie soll ich den Ort sonst nennen?
Unter diesem Namen ihr all’ müßt ihn kennen.
Dort stand in des Dorfes beherr­schen­der Mitten,
Von der Veste »Kirch­hofs­mau­er« wohl umstrit­ten,
Die katho­li­sche Kirche alters­grau,
Der frommen Ahnen ehrwür­di­ger Bau.
Acht der Jahrhun­dert’ schau­ten auf den Ort,
Acht der Jahrhun­dert’ hörten hier Gottes Wort,
Viel Tausen­de gingen getröst, belehrt,
Viel Tausend’ hier wurden versöhnt bekehrt.

Aber ach! zu schwach sind gewor­den des Baues Glieder:
Drum legte zur Ruh man sachte ihn nieder,
Als morscher Leib ward er versen­ket ins Grab,
Hört welch ein Begräb­nis man jüngst ihm gab:
Nach stürmi­schen, rauhen Winter­ta­gen,
Als Frühling schon wollte Einzug wagen,
Da stell­te zum Abbruch des Kirch­leins klein
Am achten März bei Sonnen­schein
Die ganze Gemeind’ sich ein;
Alt, jung, groß, klein,
Bot freudig Zeit und Kraft.
Die muntre Jugend schafft
Der Orgel Pfeifen in siche­ren Hort,
An wohlver­schloss­nen gehei­men Ort

Und kann — wer möcht’s verar­gen — nicht unter­las­sen,
In seltsa­men Klängen sie tönen lassen
Auf breiten Wegen und auch in engen Gassen.
Wohl wäre, ihr munte­ren Musikan­ten,
Euch losen Schel­men, euch wohlbe­kann­ten,
Ein anderes Rohr wohl angemes­sen
Als Denkmal auf dem Leib geses­sen.
Aber da ihr gewüh­let dem Maulwurf gleich
Im morschen Boden, im Staub-Bereich,
Und freudig abgabet, was ihr gefun­den,
So seiet nun auch von Strafe entbunden …

Unter des rüsti­gen Pfarr­herrn kräfti­ger Leitung
Verschwan­den Altäre, der Wände Verklei­dung.
Und Kanzel und Taufstein hinaus sie schaff­ten,
Und alle die Sachen zusam­men sie rafften,
Das Dach, die Ziegel, der Jahrhun­dert Zeugen,
Der Mauern kraft­strot­zen­de Quader sich beugen.
Und wieder in den Staub der Erden sie sinken,
Mög’ fröhli­ches Ostern bald ihnen winken.
Verödet und einsam steht nun der Ort,
Wo so lang ward verkün­det des Herren Wort.
Der Turm nur, ein mächtig Finger­zei­chen
Ragt aufwärts und ruft: Laßt die Händ’ uns reichen,
Frisch auf! ans Werk und nicht verza­get,
Nicht stille steht und tatlos klaget,
Ein würdig Gottes­haus muß erste­hen!
Wider­steht nicht des höheren Geistes Weh’n!

Die Verjäh­rungs­kir­che liegt tot darnie­der,
Ein neues Jahrhun­dert doch schaue wieder
Die neue Kirche hoch und hehr,
Erbaut zu des Aller­höchs­ten Ehr,
Dem Preis sei und Dank für alle Zeit
Von nun an bis in Ewigkeit.
Und Dank auch euch allen, die ihr bereit
Der guten Sache das Lied geweiht,
Dank, Euch, den Vätern dieser Stadt!
Dank jedem, der heute gehol­fen hat,
Daß Segen uns bringt die jetzi­ge Stunde.
O zeiget auch ferner die Hand dem Bunde,
Der emsig schaf­fet und stetig sich müht,
Daß neues Leben aus den Ruinen erblüht,
Daß in Oberko­chen eine Kirch’ ersteht,
Gottes Odem in neuen Räumen weht!«

Nun noch einige Anmer­kun­gen:
1. Der im Prolog angespro­che­ne »rüsti­ge Pfarr­herr« war der Oberko­che­ner Ehren­bür­ger, Pfarrer Bucher (s. BuG vom 25.1.1991), der durch »unermüd­li­che Bettel­pre­dig­ten und Bettel­rei­sen und auch durch eine unglaub­li­che Motivie­rung der eigenen Pfarr­ge­mein­de« (so R. Heite­le im Oberko­che­ner Heimat­buch S. 54) die Finan­zie­rung des Neubaus betrie­ben hat. Aus dem zweit­letz­ten Absatz des Prologs könnte gefol­gert werden, die am 8. März 1898 abgebro­che­ne Kirche sei »Verjäh­rungs­kir­che« genannt worden. Nein, der Volks­mund »verpaß­te« diesen Namen der neu zu bauen­den Kirche noch vor deren feier­li­cher Grund­stein­le­gung am 11. Septem­ber 1899.

Die Oberko­che­ner besaßen schon immer eine Ader für Phanta­sie­na­men (nannten sie doch vor einigen Jahrzehn­ten einen nicht fertig werden wollen­den Bau »Beetho­ven­hal­le« nach der »Unvoll­ende­ten«, die aber bekannt­lich von Schubert stammt). Als vor hundert Jahren die Finan­zie­rung für den Kirch­bau geplant wurde, war man der Meinung, das König­reich Württem­berg müsse als Rechts­nach­fol­ger der Props­tei Ellwan­gen die Baulast überneh­men. Der Staat lehnte das vorge­brach­te Ansin­nen ab mit der Begrün­dung, der Anspruch hätte schon 40 Jahre früher angemel­det werden müssen, er sei nun verjährt. Der darüber angestreng­te Prozeß ging bis vor das Reichs­ge­richt in Leipzig, das aber 1897 die Verjäh­rungs­theo­rie für rechtens befand und das Oberko­che­ner Begeh­ren endgül­tig ablehn­te. Insofern hat Lehrer Schnei­der im Prolog recht: »Die (neue) Verjäh­rungs­kir­che lag tot darnie­der« und es war nun an den Oberko­che­nern, mit Eigen­in­itia­ti­ven Ersatz­geld­quel­len zu erschlie­ßen. Dazu zählte auch das Balluff-Konzert, dessen »pecunie­rer Erfolg in 419 M. Einnah­men« bestand.

2. Über Anton Micha­el Bruno Balluff soll in nächs­ter Zeit geson­dert berich­tet werden, deshalb hier nur ein »Kurz-Steno­gramm« seines Lebens. Sohn des Oberko­che­ner Schul­meis­ters Balluff (Mitbe­grün­der des katho­li­schen Kirchen­chors). Zum Lehrer ausge­bil­det, aber in seiner Militär­zeit zur Musik kommend, ging Balluff an das Hofthea­ter, wo er sich vom kleinen Chorsän­ger zum gefei­er­ten Helden­te­nor empor­ar­bei­te­te und 1894 bei seinem 25jährigen Sänger­ju­bi­lä­um in Stutt­gart groß gefei­ert wurde. Er starb 1924.

3. Lehrer Schnei­der wurde 1891 als Nachfol­ger von Lehrer Gutmann nach Oberko­chen ernannt. Da sein Vorgän­ger Gutmann ein ebenso erfolg­rei­cher Lehrer wie auch Musiker und Künst­ler gewesen war (s. BuG-Bericht Nr. 135), war es für ihn nicht leicht, in dessen Fußstap­fen zu treten. Bei der Leitung des Kirchen­chors scheint er keine so glück­li­che Hand gehabt zu haben. Die Festschrift des katho­li­schen Kirchen­chors berich­tet (1977) über Diffe­ren­zen, die den damali­gen Pfarrer Breiten­bach — bekannt­lich Ehren­bür­ger der Gemein­de Oberko­chen — veran­laß­ten, »von der Kanzel herab den Kirchen­chor als aufge­löst« zu erklä­ren. Vielleicht aber waren die Unstim­mig­kei­ten doch nicht so gravie­rend, denn der Kirchen­chor existier­te fröhlich weiter und, wie der Prolog zeigt, auch Lehrer Schnei­der engagier­te sich weiter für die Kirche, vor allem für den Kirchenneubau.

Oberkochen

Das Foto ist ein Ausschnitt aus der Gruppen­auf­nah­me der katho­li­schen Schule aus dem Jahr 1898, die — aus der Sammlung von Kuno Gold stammend — auch in der Ausstel­lung »Bekann­te und unbekann­te Gesich­ter Oberko­chens« zu sehen war. Das Bild zeigt Lehrer Schnei­der inmit­ten seiner Schüle­rin­nen und Schüler. Sehr wahrschein­lich sind auch einige darun­ter, die an dem harmlo­sen Streich betei­ligt waren, den der Prolog anspricht: Die Jugend mußte vor dem Abbruch der Kirche die Pfeifen der alten Orgel aus der Kirche abtrans­por­tie­ren und hat dabei offen­bar den Oberko­che­nern mit seltsa­men Tönen einen ungewohn­ten Marsch gebla­sen. Die Namen der Schüle­rin­nen sind: o. 1: Maria Weber geb. 1886, später verh. Götz; o. r.: Maria Danner geb. 1884, Vater war Stati­ons­vor­ste­her; u. r.: Vikto­ria Fischer geb. 1885, später verh. mit Karl Gold, Schmidjörgle;

PS: Eigen­ar­ti­ger­wei­se wird nie der Vorna­me von Lehrer Schnei­der genannt. Wer kennt ihn?

Volkmar Schrenk

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte