Sie, liebe Leserin und lieber Leser, kennen doch »die« Oberko­che­ner Schlit­ten­ge­schich­te, die um das Jahr 1910 Oberko­chen einen wenig schmei­chel­haf­ten und absolut nicht hoffä­hi­gen Spott­na­men einge­bracht hat? Wie laute­te er? — das wollen auch andere, denen die Geschich­te unbekannt ist, vermut­lich nun wissen. Deshalb sei sie der »neuen« Geschich­te, die aller­dings wesent­lich älteren Datums ist, vorangestellt.

Die Schlittenschei..r
Drei sehr verschie­den­ar­ti­ge Umstän­de hatten damals zusam­men­ge­wirkt. Erstens lag viel Schnee auf der Ostalb und es war bitter­kalt. Zweitens besaß jedes Haus in Oberko­chen eine »Abort­gru­be«, denn es gab noch keine Kanali­sa­ti­on. Und drittens war in Oberko­chen die katho­li­sche Zentrums­par­tei »in«. Bei der Landtags­wahl 1911 haben in Oberko­chen von 292 Wahlbe­rech­tig­ten 211 ihre Stimme dem Gerichts­as­ses­sor Eugen Bolz von der Zentrums­par­tei (Bolz war später auch Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ter und ab 1928 württem­ber­gi­scher Staats­prä­si­dent, der nach dem 20. Juli 1944 verhaf­tet und hinge­rich­tet wurde. In Oberko­chen erinnert an ihn der »Eugen-Bolz-Platz« beim Rathaus). 60 Stimmen fielen auf Syndi­kus Dr. Mayer von den »Verei­nig­ten Libera­len« und nur 4 Stimmen erhielt der sozial­de­mo­ka­ti­sche Bewer­ber Buchhänd­ler Fischer.

Diesem Oberko­che­ner Defizit wollten nun einige Anhän­ger der SPD aus Aalen abhel­fen, hatten sie doch dort immer­hin 40 % der Stimmen erhal­ten. Wie Christ­hard Schrenk in seinem Büchlein »Alt-Oberko­chen« auf den Seiten 22 und 23 erzählt, hielten sie dazu im Gasthaus »Hirsch« eine Partei­ver­samm­lung ab. Dies wieder­um rief die politi­schen Gegner auf den Plan. Um den Aalenern einen »Streich« zu spielen, schmug­gel­ten ihnen »einige junge Kerle vom Zentrum« einen »Eisklotz« in den beim Gasthaus »Hirsch« gepark­ten Schlit­ten. Aller­dings bestand dieser nicht aus reinem Eis, sondern es war ein »Bollen«, der sich wegen der Kälte rasch aus dem Inhalt einer zuvor in die nahe Abort­gru­be getauch­ten »Schapf« gebil­det hatte.

Als die Versamm­lung zu Ende war, machten sich die Aalener mit ihrem Schlit­ten auf den Heimweg, gegen die Kälte wohlge­schützt durch einige Decken und nichts von ihrer eisigen Fracht ahnend. Offen­bar wirkte die Hitze der politi­schen Debat­ten auf der Heimfahrt nach und die kälte­ab­wei­sen­den Decken taten das ihre:

Der »Eisbro­cken« begann aufzu­tau­en. Kaum hatten die Aalener die untere Kocher­brü­cke bei der Elser-Mühle überquert, entström­te Decken und Kissen zuneh­mend bestia­li­scher Geruch, gegen den sich Fahrt­wind und erfri­schen­de Winter­luft macht­los erwie­sen. Die Insas­sen des Schlit­tens warfen sich ratlos und stumm fragen­de Blicke zu: Der Geruch der Pferde war doch sonst etwas anders geartet, oder sollte gar einem von ihnen etwas Mensch­li­ches passiert sein? Das ging so, bis die ersten Lichter von Unter­ko­chen auftauch­ten, da faßte sich einer ein Herz und stell­te treff­si­cher fest: »Des stenkt grad so, wie wenn oiner en d’Schlit­te nei gschis­se hätt’«, was zwar objek­tiv unrich­tig war, den Oberko­che­nern aber nach Bekannt­wer­den der Sache den Namen »Schlie­daschei­ßer« einbrachte.

Rasen­der Schlit­ten überfährt Unter­ko­che­ner Postbo­ten
1888 war schon einmal eine Geschich­te passiert, bei dem ein Schlit­ten im Mittel­punkt stand. Aller­dings war der »Tatort« nicht Oberko­chen, sondern Unter­ko­chen, und sie war nicht ganz so anrüchig, dafür aber mit krimi­nel­lem Anstrich, denn sie ist durch den Prozeß­be­richt über eine Verhand­lung vor dem Schwur­ge­richt Ellwan­gen bekannt geworden.

Genau­er gesagt waren es zwei Prozes­se, die 1888 um die Sache geführt wurden. Beim ersten Prozeß ging es darum, »daß der 25 Jahre alte ledige Bauer J. G. von Oberko­chen« angeklagt war, »am 26. Dezem­ber 1887 in Unter­ko­chen den 69 Jahre alten Festschüt­zen und Postbo­ten Johs. Schäff­au­er von Unter­ko­chen durch einen mit zwei Pferden bespann­ten, übermä­ßig rasch fahren­den Schlit­ten überfah­ren zu haben, was für Schäff­au­er den Bruch des Achsel­beins und einmo­na­ti­ge Arbeits­un­fä­hig­keit zur Folge hatte«. Als Zeugin zu seiner Entlas­tung hatte der Oberko­che­ner G. die »27 Jahre alte Bauers-Ehefrau K. S. aus Unter­ko­chen« aufge­bo­ten. Beide, wie auch »deren Famili­en­an­ge­hö­ri­gen standen in keiner­lei näherer Bezie­hung zuein­an­der«. Frau S. sagte »mit Bestimmt­heit aus, nicht J. G., sondern sein Bruder M. G., welcher am selben Tag ebenfalls mit einem Schlit­ten von Aalen kommend durch Unter­ko­chen gefah­ren ist, habe den Unglücks­schlit­ten gelenkt«.

Aufgrund dieser unter Eid erfolg­ten Aussa­ge wurde Johan­nes G. freige­spro­chen. Staats­an­walt Hornig aus Ellwan­gen hielt diese Versi­on aber für eine faule Geschich­te. Er trieb in kurzer Zeit 30 Zeugen auf, die seine Ansicht bestä­ti­gen konnten. Und so kam es zu einem zweiten Prozeß.

Meineids­pro­zeß wegen Schlit­ten­un­fall
Am 22. und 23. Juni 1888 wurde das Haupt­ver­fah­ren vor dem Schwur­ge­richt Ellwan­gen durch­ge­führt. Angeklagt waren »K. S. wegen eines Verbre­chens des Meineids« und »J. G. aus Oberko­chen wegen Anstif­tung zum Verbre­chen des Meineids«. Wie zu erwar­ten war, hatte die Ankla­ge beim Verfah­ren leich­tes Spiel, denn »nach den Aussa­gen einer Reihe unbetei­lig­ter Zeugen hat der mit Kindern besetz­te Schlit­ten, welchen J. G. lenkte, den Schäff­au­er überfah­ren und nicht der von seinem Bruder M. G. gelei­te­te, welcher mit erwach­se­nen Perso­nen besetzt war und zudem viel später Unter­ko­chen passiert hat, als Schäff­au­er überfah­ren worden ist«.

Dennoch kämpf­ten die Vertei­di­ger der Angeklag­ten, die Rechts­an­wäl­te Frik und Eisele aus Ellwan­gen, mit allen zu Gebote stehen­den Mitteln und Spitz­fin­dig­kei­ten für ihre Mandan­ten. Obwohl Frau S. auf ihrer Falsch­aus­sa­ge beharr­te, folger­te die Vertei­di­gung, »nach Lage der Sache und nach den zur Zeit des Vorkomm­nis­ses vorge­le­ge­nen persön­li­chen Verhält­nis­sen der Angeklag­ten S. dürfe zu schlie­ßen sein, daß sich in deren Gedächt­nis eine Verwech­se­lung ihrer eigent­li­chen Wahrneh­mun­gen so einge­prägt hat, daß sie überzeugt ist, der Verlauf sei so gewesen, wie sie ihn angege­ben hat. Demnach dürfte fraglich sein, ob sie wissent­lich falsch geschwo­ren hat… . Treffe letzte­res nicht zu, so wäre für die S. die Schuld­fra­ge zu vernei­nen und ebenso für G. die Anstif­tung zum Meineid, obwohl er sich der Verlei­tung zum Meineid inner­lich schul­dig gemacht habe«.

Überra­schen­des Urteil
Als sich die Geschwo­re­nen zur Urteils­fin­dung zurück­ge­zo­gen hatten, war man sehr auf das Ergeb­nis der Beratun­gen gespannt. Würde das Plädoy­er der Vertei­di­gung in seiner doch etwas faden­schei­ni­gen Argumen­ta­ti­on überzeu­gend haben? An einen Freispruch glaub­te niemand so richtig, denn von zahlrei­chen Zeugen war ja der Unfall­her­gang eindeu­tig beschrie­ben worden. Um so größer war dann die Überra­schung bei der Urteils­ver­kün­dung. »Die Geschwo­re­nen vernein­ten sämtli­che die Schuld­fra­ge, worauf Freispruch beider Angeklag­ten erfolgte«.

Ob dies ein sachlich richti­ges Urteil war, muß dahin­ge­stellt bleiben, denn immer­hin war der Unfall tatsäch­lich passiert, es war dabei eine Person verletzt worden und Bauer Johan­nes G. aus Oberko­chen hatte ja nach einigem Hin und Her einge­räumt, »es könne sein, daß er Schäff­au­er überfah­ren habe, wahrge­nom­men habe er es aber nicht«, — und nun war nach zwei Prozes­sen nicht einmal mehr ein Unfall­ver­ur­sa­cher vorhan­den, geschwei­ge denn jemand, von dem der Geschä­dig­te Schmer­zens­geld und Schadens­er­satz fordern konnte. Wie sich der doppelt betrof­fe­ne Postbo­te und Festschüt­ze von Unter­ko­chen dazu stell­te, ist nicht berichtet.

Oberkochen

Zum Foto:
Das uns von Herrn Robert Wolff überlas­se­ne Origi­nal-Foto zeigt, wie früher im Winter Trans­port­schlit­ten im Einsatz waren, auch der Bahnschlit­ten — bekannt ist ja das Bild auf Seite 220 im Oberko­che­ner Heimat­buch — war zur Winters­zeit unent­behr­lich. Auf dem Foto sieht man Grubwirt Franz Weber und Chris­ti­an Jooss auf dem Weg zur Wildfütterung.

Der Junge auf dem Heuschlit­ten ist Walter Wolff, der Sohn des Fotografen.

Volkmar Schrenk

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