»Ein Vater­land für alle Deutschen« war 1963 ein Wunsch, dessen Erfül­lung damals Utopie war. Dennoch war dieser Satz am 17. Juni 1963 auf einem Spruch­band über dem Eingang zum Mittel­bau der Dreißen­tal­schu­le zu lesen, wie die Aufnah­me von Robert Wolff zeigt.

Seit dem Aufstand in Ost-Berlin und anderen Städten Mittel­deutsch­lands waren 1963 genau 10 Jahre ins Land gegan­gen und der Mauer­bau im Jahre 1961 hatte zur Verschär­fung der Situa­ti­on ein übriges getan. »Trotz der Aussichts­lo­sig­keit des Augen­blicks dürfen wir nicht mutlos werden. Es ist notwen­dig, die kleinen und kleins­ten Schrit­te auf das Ziel der Wieder­ver­ei­ni­gung in Freiheit hin zu wagen und zu tun«, so drück­te sich Bürger­meis­ter Bosch damals in seiner Einla­dung zur Feier­stun­de am 17. Juni 1963 aus.

Die Feier auf dem Dreißen­tal­hof wurde vom Chor des Sänger­bunds und durch die Stadt­ka­pel­le musika­lisch gestal­tet; ein Schüler des Gymna­si­ums rezitier­te von Dietrich Bonhoef­fer »Statio­nen auf dem Weg zur Freiheit«. Für die Anspra­che hatte, wie das Bild zeigt, Alt-Minis­ter­prä­si­dent Dr. Reinhold Maier gewon­nen werden können.

1945 waren von den Besat­zungs­mäch­ten die frühe­ren Länder Württem­berg und Baden in drei neue Länder aufge­teilt worden: »Württem­berg — Baden« in der ameri­ka­ni­schen Zone und in der franzö­si­schen Zone »Württem­berg — Hohen­zol­lern« und (Süd-) »Baden«. Mit Dr. Reinhold Maier, dem Minis­ter­prä­si­den­ten von Württem­berg-Baden, als treiben­de Kraft, wurde 1948 in Karls­ru­he ein »Staats­ver­trag« geschlos­sen — (dieser Begriff begeg­net uns auch 1990 häufig), — der die Verei­ni­gung der drei Länder zum »Südwest­staat« herbei­füh­ren sollte. Da aber der Südba­de­ner Leo Wohleb diesen Vertrag nicht unter­zeich­ne­te, zogen sich Volks­ab­stim­mun­gen und Verhand­lun­gen mehre­re Jahre hin. Erst 1952 konnte das neue Land »Baden-Württem­berg« mit Reinhold Maier als erstem Minis­ter­prä­si­den­ten gebil­det werden. Als aufrech­ter Demokrat, exzel­len­ter Kenner der politi­schen Szene jener Zeit und Exper­te in Verei­ni­gungs­fra­gen war der Alt-Minis­ter­prä­si­dent für ein Wort zum 17. Juni gerade­zu präde­sti­niert, — und er hielt auch »eine vielbe­ach­te­te Rede« (BuG). Unser Foto zeigt ihn dabei.

Oberkochen

Bei genau­er Betrach­tung des Bildes fällt, knapp über dem fahnen­ge­schmück­ten Redner­pult sicht­bar, die Uhren­ket­te von Reinhold Maier auf. Wie Herbert Schnei­der im Buch »Die Geschich­te Baden-Württem­bergs« berich­tet, spiel­te die zur Kette gehören­de Uhr bei der Gründung des neuen Bundes­lan­des eine Rolle: »Kurz nachdem am 25.4.1952 der langjäh­ri­ge Regie­rungs­chef von Württem­berg-Baden Reinhold Maier gegen die Stimmen der stärks­ten Landtags­frak­ti­on zum ersten Minis­ter­prä­si­den­ten gewählt worden war und seine Regie­rung vorge­stellt hatte, holte er seine altvä­ter­li­che Uhr aus der Westen­ta­sche und verkün­de­te um 12.30 Uhr:

»Mit dieser Erklä­rung sind die Länder Baden, Württem­berg-Baden und Württem­berg-Hohen­zol­lern zu einem Bundes­land verei­nigt. Meine Frauen und Männer! Gott schüt­ze das neue Bundes­land«. »Seine Erklä­rung ging in Rufen sich überrum­pelt fühlen­der Abgeord­ne­ter und im stürmi­schen Beifalls­klat­schen der Regie­rungs­frak­tio­nen unter.« Diese Szene hatte sich im Behelfs­ge­bäu­de des Landtags in der Stutt­gar­ter Heusteig­stra­ße zugetra­gen. Der »Fuchs vom Remstal«, wie man Reinhold Maier manch­mal nannte, hatte seine Konkur­ren­ten wieder einmal ausgespielt.

Die Ostalb, insbe­son­de­re auch der Volkmars­berg, auf den ihn Bürger­meis­ter Bosch zu einem Spazier­gang beglei­te­te, war ihm gut bekannt. Schon am 3. Oktober 1920 — also genau 70 Jahre vor »unserem« 3. Oktober 1990 — hatte er als junger Rechts­an­walt in Aalen einen Vortrag über die Auswir­kun­gen des damals aktuel­len »Reich­no­t­op­fer­ge­set­zes« gehal­ten, Reinhold Maier, der von 1889 bis 1971 lebte, fand seine letzte Ruhestät­te auf dem alten Fried­hof seiner Geburts­stadt Schorndorf.

In unseren Tagen, da nun »das eine Vater­land« Wirklich­keit gewor­den ist und der 17. Juni durch den 3. Oktober als echtem »Tag der Einheit« abgelöst wird, mag die heuti­ge Rückerin­ne­rung an jenen »kleins­ten Schritt« in Form einer Gedenk­stun­de auf dem Hof der Dreißen­tal­schu­le erlaubt und auch notwen­dig sein. Notwen­dig nicht zuletzt, damit die uns wieder­ge­schenk­te staat­li­che und politi­sche Einheit erfüllt und gestal­tet werde durch mensch­li­ches Mitein­an­der und Fürein­an­der. Dies wird aber nur gelin­gen, wenn auch weiter­hin »viele Leute an vielen Orten viele kleine Schrit­te« wagen und tun.

Volkmar Schrenk

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