Am 6. Juli 1890, also vor hundert Jahren, rumpel­te ein Wagen kurz nach Mittag durch die Kirch­stra­ße (s. Bild) und hielt vor dem »Golde­nen Hirsch«, wie das heuti­ge Gasthaus »Hirsch« damals noch hieß. Es stiegen zwei respek­ta­bel geklei­de­te Männer aus, was dem Hirsch­wirt Johann Georg Nagel, seines Zeichens Bierbrau­er und Ökonom, sofort hinter­bracht wurde. Ihrem Gepäck nach zu schlie­ßen waren sie fahren­de Händler, nicht etwa Trödler, Messer­schlei­fer oder gar Hausie­rer, nein, sie stell­ten sich als Tuchhänd­ler vor, die Stoffe zu Anzügen und Kleidern, aber auch Tafel- und Bettwä­sche anboten. Als Referenz nannten sie den Adler­wirt Gohl von Eybach, die Löwen­wir­tin Straub von Salach, den Kunst­mül­ler Schul­er in Süßen und sogar die Frau Gräfin von Degen­feld habe ihnen zwei Pakete mit Stoff um 450 Mark abgekauft. Denn ihre »Masche« war, nicht Einzel­pos­ten zu verkau­fen, sondern ganze Pakete mit »Stoff zu drei Herren­an­zü­gen, je ein Tafel‑, Tisch- und Kaffee­tuch, 12 Servi­et­ten, 12 Handtü­cher«, und dies alles 160 bis 300 Mark, je nachdem man sich handels­ei­nig wurde.

Obwohl der Höhepunkt dieser Geschich­te noch keines­falls erreicht ist, soll doch schon verra­ten sein, daß ein Sachver­stän­di­ger bei der späte­ren Verhand­lung vor der Ulmer Straf­kam­mer dazu aussag­te, der Inhalt der Pakete sei höchs­tens etwa 32 Mark wert, die Stoffe allein bekom­me man überall für 15 Mark und zudem »reich­te das Tuch nicht für einen ganzen Anzug, sondern nur für Rock und Weste«.

Doch davon hatte der Oberko­che­ner Hirsch­wirt keine Ahnung, als er aus seinem Brauhaus kommend die Gaststu­be betrat, wo die beiden Reisen­den schon ihre Waren ausge­brei­tet hatten. Mit großer Bered­sam­keit pries der eine seine Stoffe an und behaup­te­te, die rein wolle­nen Tuche seien auf einer Ausstel­lung in Paris prämiert worden und es handle sich um prima engli­sche Ware. Als Inter­es­sen­ten sie aber genau­er in Augen­schein nehmen wollten, kramten die Händler behen­de neue Stoffe, Tisch­tü­cher und Bettla­ken hervor und legten sie mit wortrei­chen Gesten rasch immer oben auf, so daß die Quali­tät einzel­ner Tuche nicht geprüft werden konnte.

Schließ­lich wurde dem Hirsch­wirt das Treiben zu bunt, er fragte: »Was kostet ein Paket?« Antwort: 190 Mark. Darauf der Hirsch­wirt im Scherz (wie er später unter Eid versi­cher­te): »130 Mark sind genug«, — und ehe er sich versah, war er zu seinem großen Schreck Besit­zer eines Stoff­pa­ke­tes gewor­den und blätter­te tatsäch­lich die gefor­der­te Summe auf den Tisch.

Als der Kauf mit einem Glas Bier beschlos­sen werden sollte, beton­ten die Händler, sie seien in großer Eile, denn sie müßten auch noch Kunden in Königs­bronn besuchen, man wisse doch, »time is money«, womit der eine seine Welterfah­ren­heit kundtun wollte, der andere aber zum Hirsch­wirt sagte: »Hättet Ihr ein besse­res Trink­geld gegeben, wären wir noch großzü­gi­ger gewesen«, was den Hirsch­wirt zwar stutzig machte, aber den raschen Aufbruch nicht zu verhin­dern vermochte.

Denn der Wagen­len­ker — es war der Kutscher Anton Bieg von Aalen — konnte die inzwi­schen rasch wieder einge­spann­ten Pferde nur noch mit Mühe zurück­hal­ten; so verstau­ten die Händler eilig ihr Gepäck im Wagen, spran­gen selbst hinein und entschwan­den durch die »Langgaß« in Richtung Königsbronn.

Als die Reisen­den, auf der Straße eine Staub­wol­ke, beim Hirsch­wirt aber gelin­de Zweifel hinter­las­send, so rasch »verduf­tet« waren, betrach­te­ten der Hirsch­wirt und seine Frau den Kauf, wobei ihnen bald »der Seifen­sie­der« aufging: Sie waren übers Ohr gehau­en worden. Während die Frau vor Schreck erstarr­te, schick­te der Wirt seinen Knecht zum Schnei­der Stroh­mai­er, der sofort kam und die Stoffe auf höchs­tens die Hälfte des Kaufprei­ses schätz­te. (Beim späte­ren Prozeß vertei­dig­te sich der Händler mit dem Argument »wenn ein Schnei­der ein Tuch taxie­re zu 20 Mark, ist es mindes­tens 40 Mark wert, denn die Schnei­der verste­hen nichts«.)

Da Hirsch­wirt Nagel nicht willens war, sein gutes Geld zu verschleu­dern, sann er auf Rache. Denn 135 Mark waren vor hundert Jahren ein beträcht­li­cher Betrag und Gegen­wert von z.B. 4 Paar Saugschwei­nen oder 40 Zentnern Kartof­feln. Deshalb spann­te er seine Pferde ein, warf das Paket als »corpus delic­ti« auf den Wagen, fuhr zum Rathaus, schnapp­te sich dort Schult­heiß Bezler, und fuhr die Pferde nicht schonend eilends nach Königs­bronn. Und er hatte Glück.

Genau als sich die Gauner auch dort aus dem Staube machen wollten, kamen die Oberko­che­ner dort an. Schult­heiß Bezler knöpf­te sich die beiden vor, jedoch diese leugne­ten und wollten von der ganzen Sache nichts gewußt haben. »Erst auf Konfron­ta­ti­on mit Nagel gestan­den sie« und rückten unter Jammern und Gezeter auch das Geld wieder heraus, versäum­ten aber nicht, die Oberko­che­ner zu bitten, von einer Anzei­ge bei der Polizei abzuse­hen, was jedoch unnötig war, denn der Königs­bron­ner Landjä­ger hatte schon eine Meldung geschrieben.

Befrie­digt machten sich Schult­heiß und Hirsch­wirt wieder auf den Weg über die Wasser­schei­de. Da Johann Georg Nagel dank seiner schnel­len Entschlus­ses und mit Hilfe des Schult­hei­ßen nochein­mal gut davon­ge­kom­men war, werden sie sich anschlie­ßend wohl einige Gläser Bier aus der Hirsch­braue­rei geneh­migt und ihr Abenteu­er am Stamm­tisch zum besten gegeben haben.

Nachzu­tra­gen ist noch: Zwei »Preußen« waren die Gauner, denen am 27. August 1891 vor der Ulmer Straf­kam­mer unter Vorsitz des Landrich­ters Pfeifer der Prozeß gemacht wurde, worüber die »Kocher­zei­tung« in Aalen ausführ­lich berichtete.

Beide lebten als fahren­de Händler, der eine war »von Hause aus Destil­la­teur und Schnap­ser«, der andere zunächst Goldar­bei­ter, dann Kellner und Handels­mann. Das Vorstra­fen­re­gis­ter beider war beacht­lich. Beim ersten finden sich Stich­wor­te wie »Hausfrie­dens­bruch, Unter­schla­gung, Wider­stand gegen die Staats­ge­walt, Belei­di­gung, betrü­ge­ri­scher Bankrott«, der andere hatte »Kuppe­lei, Unter­schla­gung, schwe­ren Diebstahl, Ehrver­lust« aufzu­wei­sen. Beide waren verhei­ra­tet, reisten aber ohne Anhang durchs Land. Einer behaup­te­te beim Prozeß, »völlig mittel­los zu sein und nächs­tens 8 Kinder zu haben«.

Bemer­kens­wert ist zum Schluß noch das Gerichts­ur­teil, das sehr diffe­ren­ziert ausfiel. Während der erste für seine Gaune­rei­en »als Gerie­be­ner erach­tet« zu einem Monat Zucht­haus verur­teilt wurde, kam der zweite, ledig­lich als »Handlan­ger« einge­stuft, mit einem Freispruch davon, obwohl beide, wie der Repor­ter schrieb, »nur dem Rat eines Freun­des gefolgt seien, der ihnen empfahl, nach Württem­berg zu gehen, denn da seien ganz hübsche Leute, da könne man Geschäf­te machen, (d.h. dort sind die Leute so dumm, daß man sie ordent­lich einsei­fen kann)« — was sich bis zu einem gewis­sen Grad auch als richtig erwies und erst vom Oberko­che­ner Hirsch­wirt wider­legt wurde.

Volkmar Schrenk

Oberkochen

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