Im Oberko­che­ner Sprachen­streit um den Gebrauch von »Soßes« und »Soß« schei­nen sich die Fronten merklich zu verhär­ten. Zur Klärung der wider­strei­ten­den Ansich­ten ist daher die vorlie­gen­de lingu­is­tisch-sprach­wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chung notwen­dig gewor­den; nur so ist es möglich, ledig­lich auf Erinne­run­gen basie­ren­de Vermu­tun­gen durch exakt ermit­tel­te wissen­schaft­li­che Kennt­nis­se zu substituieren.

Um den gesamt­sprach­li­chen Kontext auszu­leuch­ten, sollen im folgen­den jene drei Sprach­phä­no­me­ne analy­siert werden, die dem Oberko­che­ner Schwä­bisch einen heraus­ra­gen­den Platz im gesamt­schwä­bi­schen Sprachen­ge­fü­ge sichern. 1)

Zunächst die phone­ti­sche Dimen­si­on: Sie kommt im Diphtong »ao« bemer­kens­wert deutlich zum Ausdruck, etwa in »nao« oder »dao«. — »Ond nao gascht dao nei.« — (Und dann gehst Du da hinein), um ein Beispiel anzufüh­ren. Dieser eigen­tüm­li­che, stark an das Portu­gie­si­sche erinnern­de Doppel­laut ist so diffi­zil in Anwen­dung und Ausspra­che, daß er von Herein­ge­schmeck­ten auf keinen Fall verwen­det werden sollte.

Der Diffe­ren­zie­rungs­grad, ein weite­res Krite­ri­um hoch-entwi­ckel­ter Sprach­for­men, wird im Oberko­che­ne­ri­schen in Sonder­heit durch die Tatsa­che evident, daß ein einzi­ger, überwie­gend formel­haft gebrauch­ter Satz allein durch wechseln­de Betonung nicht weniger als drei Abstu­fun­gen der Vernei­nung ermöglicht:

a. »Séll gátt édda.« (Beding­te Vernei­nung)
b. »Séll gátt édda.« (Einfa­che Vernei­nung)
c. »Séll gátt édda.« (Absolu­te Vernei­nung) 2)

Das eigent­li­che Spezi­fi­kum der Oberko­che­ner Sprache ist indes zweifel­los eine Gruppe von Mengen‑, bzw. Gattungs­be­grif­fen mit der enigma­ti­schen Endung »-es«, z.B. in Kranz-»es«.

Nun gibt es über die Entste­hung dieser »-es«-Begriffe verschie­de­ne, sich zum wider­strei­ten­de Theorien, deren Diver­genz auch durch ein Sympo­si­um renom­mier­ter europäi­scher Sprach­wis­sen­schaft­ler im lingu­is­ti­schen Insti­tut an der Univer­si­tät München nicht überbrückt werden konnte, nicht zuletzt deshalb, weil dieses bisher bedau­er­li­cher­wei­se noch nicht statt­fin­den konnte.

Es fragt sich, ob man Prof. Dr. H. Pante­leit 3) soweit folgen sollte, in der »-es«-Endung eine Abart des franzö­si­schen Teilungs­ar­ti­kels zu sehen. Die Argumen­te Pante­leits sind jedoch nicht einfach von der Hand zu weisen: Zum einen ist es durch­aus denkbar, daß durch­zie­hen­de franzö­si­sche Truppen, neben anderem, auch einmal eine gramma­ti­ka­li­sche Form zurück­lie­ßen. überzeu­gen­der jedoch ist aller­dings der Hinweis, daß das »Kranzes« früher in Oberko­chen niemals als einzel­nes in Erschei­nung trat, gab es doch herge­brach­te und verbind­li­che Termi­ne für das Backen von »Kranzes«. Kam das Backwerk also in einem Hause auf den Tisch, erschien es stets als Teil des in diesem Augen­blick im Dorf existen­ten Gesamt-»Kranzes«.

Die Theorie eines franzö­si­schen Lingu­is­ten 4), »Kranzes« sei nichts anderes als eine Sonder­form des Genitivs, bei der wegen der termi­nie­ren­den Buchsta­bens »z« das Genitivs nur durch die Zwischen­schal­tung einer Art Wohlklangs-»e« anfüg­bar ist, sollte — so bestechend sie auch zunächst erschei­nen mag — indes nicht weiter verfolgt werden, da sie schon bei zwar artver­wand­ten, doch geschmack­lich und visuell deutlich zu unter­schei­den­den »Kipfes« nicht mehr in Anwen­dung zu bringen ist. 5)

Eine herme­neu­ti­sche Vorbil­dung wäre für das Verste­hen der dritten »-es«-Theorie durch­aus hilfreich, reicht diese doch über seman­tisch fundier­te Erklä­rungs­ver­su­che weit hinaus.

Auffäl­lig ist, daß die fragli­chen »es«-Endungen bisher nur in eher lustbe­ton­ten, ja überhö­hen­den Bezügen erschie­nen, beim »Kranzes« in beson­ders ausge­präg­ter Form: Durch dieses erfuhr der Sonntag schon beim Frühstück eine erste, hohe Würde.

Um eine sich aufdrän­gen­de Erkennt­nis vorweg­zu­neh­men: Die »-es«-Endung bei »Kranzes« und »Kipfes« erscheint hier als sprach­li­ches Symbol für die Subli­mie­rung simpler Materie.

Doch gilt dies auch für das eigent­li­che Rätsel der Oberko­che­ner Sprache, für das oder die »Soßes«? 6)

Vollends unangreif­bar wird die Subli­mie­rungs­theo­rie durch die überra­gen­de Rolle, die das oder der »Braotes« im Hinblick auf das schwä­bi­sche Sonntags­es­sen seiner­zeit spiel­te, die jedoch an Bedeu­tung von der »Soßes« bei weitem übertrof­fen wird. Ihre absolu­te Priori­tät gegen­über dem »Braotes« wird schon durch die in verschie­de­nen Fragen­zy­klen eruier­te Herstel­lungs­wei­se 7) evident, die den essen­ti­el­len Charak­ter der »Soßes« verstärkt, dem Fleisch selbst jedoch eine eher unter­ge­ord­ne­te Rolle zuweist. Nicht zuletzt dieses essen­ti­el­len Charak­ters wegen ist die »Soßes« geeig­net, in kataly­sa­to­ri­scher, ja spiri­tu­el­ler Weise das (den) »Braotes« mit seinen obliga­to­ri­schen Beiga­ben »Grombi­ra­sa­lat« (Kartof­fel­sa­lat) und Spätz­le — in beson­ders soßes­be­wuß­ten Famili­en auch mit dem »Grünen Salat« — zu einem unauf­lös­li­chen Kunst­werk zu verbin­den, das, fehlte auch nur eines seiner Teile, als solches nicht mehr angese­hen werden könnte. 8)

Was nun den Sprachen­streit »Soßes« — »Soß« anbelangt, kann unvor­ein­ge­nom­men festge­stellt werden:

Es kann immer nur »Soßes« gehei­ßen haben, denn eine einfa­che »Soß« ohne die subli­mie­ren­de Wirkung der »es«-Endung wäre allen­falls fähig, die Ingre­di­en­zi­en zu nässen, niemals aber, sie zu vergeis­ti­gen und auf jene mysti­fi­zie­ren­de Weise in das zu trans­po­nie­ren, was das wahre schwä­bi­sche Sonntags­es­sen Oberko­che­ner Prove­ni­enz erst zu einem solchen macht.

»Soß« mag jedoch, dies sei abschlie­ßend vermerkt (wenn auch nicht nachge­wie­sen), als volks­tüm­li­che Verball­hor­nung des allein und grund­sätz­lich gülti­gen »Soßes« durchgehen.

Rudolf Heite­le

  1. Es ist ein gravie­ren­der Mangel des berühm­ten 5‑bändigen Sprach­werks von H. Fischer Stadt­bi­blio­thek!), daß in seinen ethymo­lo­gi­schen Deduk­tio­nen das Oberko­che­ner Idiom keiner­lei Erwäh­nung findet.
    (Herrmann Fischer, Schwä­bi­sches Wörter­buch, Verlag der Laupp’schen Buchhand­lung, 1904)
  2. Eine weite­re Diffe­ren­zie­rung durch Wechsel der Tonhö­he infol­ge gradu­el­ler Inten­si­vie­rung der Obertö­ne reicht, was die Vielfalt anbelangt, an das Kanton-Chine­sisch heran und muß daher einer geson­der­ten Unter­su­chung vorbe­hal­ten bleiben, evtl. in Form einer Disser­ta­ti­on für Sinologen.
  3. In »Enigma­tis­men hetero­ge­ner Sprach­form der Ostalb«, Nitex-Verlag 1986, a.a.O. S. 291 ff.
  4. Vgl. Jean-Jacques Delavoix: »Le phäno­mä­na­lis­me du Souabe juras­si­que«, Jamis, 1983, a.a.O. S. 32 ff.
  5. Unerklär­lich, warum der brillan­te Analy­ti­ker Delavoix diesen doch nahelie­gen­den Zusam­men­hang nicht erken­nen will!
  6. Eindeu­ti­ge ethymo­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen weisen eindeu­tig auf die Femini­num­form hin.
  7. Beim »Zamma­lei­da« (authen­ti­scher Ausdruck) wurde der »Braotes« gemacht und mit reich­lich Wasser auf das Feuer gestellt. Nach der Kirche bestand das Fleisch ausschließ­lich aus Faser, alles Wesent­li­che, Immate­ri­el­le befand sich in der »Soßes«.
  8. Vgl. die schlecht­hin gülti­ge Defini­ti­on des Kunst­werks in Jacob Burck­hardt. »Die Kunst der Renaissance«.

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte