Das Armen­haus

Für die Menschen des 19. Jahrhun­derts und in der Zeit davor hatte das Wort »Armut« einen ganz anderen Klang als für die heuti­gen Zeitge­nos­sen. Jeder wußte, was bitte­re Armut war, und jeden konnte dieses Schick­sal treffen. Eine schlech­te Ernte, eine Feuers­brunst, ein Unwet­ter, ein Unfall, eine Verlet­zung im Krieg, eine Seuche — in einer Zeit ohne Versi­che­rungs­schutz konnten solche Ereig­nis­se schlim­me Auswir­kun­gen haben.

Die unmit­tel­ba­re Folge war der Hunger. Die Verdienst­aus­fäl­le führten bei den Bauern aber auch rasch zu Zahlungs­schwie­rig­kei­ten beim Beglei­chen der Abgaben­schuld; denn oft waren die einst­mals ertrags­ori­en­tier­ten Abgaben in standar­di­sier­te Geldver­pflich­tun­gen umgewan­delt worden, und mit Bargeld war die bäuer­li­che Bevöl­ke­rung nie sehr reich geseg­net. Zwar gab es — wie auch heute — die Möglich­keit, Grund­stü­cke zu belei­hen, also mit »Hypothe­ken« zu belas­ten. Im Unter­schied zu heute konnte diese einmal entstan­de­ne Schuld jedoch entge­gen gesetz­li­cher Regelun­gen oft nicht mehr getilgt werden. Nur der jährli­che Zins war stets pünkt­lich zu bezah­len. Auf diese Weise häuften sich im Laufe der Zeit u.U. immer mehr Schul­den und damit immer mehr Abgabe­ver­pflich­tun­gen an. Am Ende einer solchen Entwick­lung, die oft genug von den Betrof­fe­nen weder selbst zu verant­wor­ten noch abzuwen­den war, stand in vielen Fällen das Armen­haus. Solche Art von Armut gehör­te noch im 19. Jahrhun­dert zu den tägli­chen Lebens­er­fah­run­gen der Menschen. Deshalb zählte ein Armen­haus zu den wichti­gen öffent­li­chen Einrich­tun­gen beina­he jeder Gemein­de. Es war fast so selbst­ver­ständ­lich vorhan­den wie z.B. ein Wirts­haus oder eine Mühle. Aller­dings befand sich das Armen­haus im allge­mei­nen eher am Ortsrand als im Zentrum. Auch in Oberko­chen war das so. Das örtli­che Armen­haus lag in der heuti­gen Mühlstra­ße auf der rechten Seite des Kochers. Das Gebäu­de hatte bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg überdau­ert und wich erst um 1950 einem moder­nen Wohnhaus. Wer in der Mitte des 18. Jahrhun­derts zum Armen­haus gelan­gen wollte, mußte den Kocher in einer Furt überque­ren, da erst ab 1769 eine Brücke vorhan­den war.

Engage­ment der beiden Kirchengemeinden

Das Oberko­che­ner Armen­haus stand in erster Linie unter der Regie der beiden örtli­chen Kirchen­ge­mein­den. Die notwen­di­gen Finanz­mit­tel wurden über eine gemein­sa­me Armen­kas­se zur Verfü­gung gestellt. Von dieser Armen­kas­se berich­ten die Quellen zum ersten Mal im Jahre 1650, also direkt nach dem Ende des Dreißig­jäh­ri­gen Krieges, der in Oberko­chen verhee­ren­de Auswir­kun­gen hatte. Aus Kirchen­vi­si­ta­ti­ons­pro­to­kol­len ist zu erfah­ren, daß diese Kasse in den Kriegs­jah­ren völlig aufge­braucht worden sei, daß sie aber auch nicht mehr benötigt werde, da alle Armen während des Krieges gestor­ben seien. Die Armen­kas­se wurde haupt­säch­lich durch Stiftun­gen und letzt­wil­li­ge Verfü­gun­gen gefüllt.

Das Fürsor­ge­we­sen wurde im allge­mei­nen von der Kirche ins Leben gerufen. Trieb­fe­der des Handels war die christ­li­che Nächs­ten­lie­be. In einigen Städten ging im ausge­hen­den Mittel­al­ter die Armen­für­sor­ge in die Hand der bürger­li­chen Gemein­den über. In Oberko­chen verblieb sie im wesent­li­chen bei den Kirchengemeinden.

Oberkochen

Aller­dings war das Gegen- und Mitein­an­der der katho­li­schen und evange­li­schen Kirchen­ge­mein­den Oberko­chens ein seit der Refor­ma­ti­ons­zeit häufig variier­tes Thema. Die überkon­fes­sio­nel­le Armen­für­sor­ge kann in diesem Zusam­men­hang als ein schon vor 250 Jahren prakti­zier­tes Beispiel der örtli­chen Bemühun­gen um Ökume­ne angese­hen werden. Aller­dings ging es auch auf diesem Feld nicht ganz ohne Proble­me ab. Die Schwie­rig­keit lag darin, daß offen­sicht­lich Armut und Reich­tum zumin­dest zeitwei­se auf die beiden Konfes­sio­nen nicht ganz gleich­mä­ßig verteilt waren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts schei­nen bei den Katho­li­ken einige Famili­en relativ reich und andere sehr arm gewesen zu sein, während es auf der evange­li­schen Seite weder beson­ders arme noch auffal­lend reiche Famili­en gegeben hat. So wollte der damali­ge evange­li­sche Pfarrer Oberko­chens, Wilhelm Fried­rich Dürr, die Armen­für­sor­ge konfes­sio­nell trennen. Denn er war der Meinung, daß die reichen katho­li­schen Famili­en ihre bedürf­ti­gen Konfes­si­ons­brü­der selbst unter­stüt­zen sollten. In einem Pfarr­be­richt, der aus der Mitte des 19.Jahrhunderts stammt, formu­lier­te Dürr seine Forde­rung folgen­der­ma­ßen: »Die Katho­li­ken sollen ihre Armen, und wir wollen unsere erhal­ten«. Eine konfes­sio­nel­le Trennung der Armen­für­sor­ge konnte Dürr jedoch nicht durchsetzen.

Verfü­gung der Obrigkeit

Die gemein­sa­me Armen­kas­se verfüg­te nie über große Reser­ven. Das Geld reich­te meist kaum aus, um die Ortsar­men auch nur am Leben zu erhal­ten. Deshalb war das Betteln für die Bedürf­ti­gen eine wichti­ge und notwen­di­ge Beschäf­ti­gung. Doch Arme, die der Unter­stüt­zung bedurf­ten, gab es nicht nur in Oberko­chen. Ganze Scharen von heimat- und mittel­lo­sen Bettlern und Landfah­rern zogen einzeln oder in kleinen Gruppen durchs Land. Sie bettel­ten sich von Ort zu Ort durch, oft konnten sie das Überle­ben nur durch einen kleinen Diebstahl sichern. In Oberko­chen wurde — wie in den meisten anderen Orten — jedoch streng zwischen ortsan­sä­ßi­gen und fremden Bettlern unter­schie­den. Das kommt z. B. im Aalener Proto­koll von 1749 zum Ausdruck. In diesem Vertrags­werk regel­ten die beiden Ortsher­ren Oberko­chens unzäh­li­ge Details des tägli­chen Lebens in dem herrschaft­lich geteil­ten Ort. Vertrags­part­ner waren das Stift Ellwan­gen, das die beiden katho­li­schen Drittel Oberko­chens innehat­te, und das Herzog­tum Württem­berg, zu dessen Eigen­tum das einst­mals zum Zister­zi­en­ser­klos­ter Königs­bronn gehören­de evange­li­sche Drittel zählte. Auch das Bettel­we­sen fand in diesem Vertrags­werk seinen Platz. Dabei verfüg­ten die Ortsher­ren einer­seits, daß für die einhei­mi­schen Bettler gewis­sen­haft zu sorgen sei; anderer­seits verhäng­te die Obrig­keit jedoch schar­fe Straf­maß­nah­men gegen auswär­ti­ge Bettler und Landfah­rer: Die örtli­chen Dorf- und Bettel­wa­chen wurden angewie­sen, »derglei­chen lieder­li­ches Gesin­del« am Betteln im Ort zu hindern und zu vertrei­ben, nötigen­falls mit Gewalt.

In einem kleinen Ort wie Oberko­chen gab es für entwur­zel­te und heimat­lo­se Menschen keine Möglich­keit, auf legale Weise zu überle­ben. Sie wurden sofort als Fremde identi­fi­ziert und vertrie­ben, da sich im Ort alle Dorfgenos-

Oberkochen

7. Der bettler halb ist gemein­schafft­lich verord­net worden,/ daß denen auswärt­ti­gen Bettlern und landfahrern/ das bettlen in loco (im Ort) oberko­chen verbot­ten seyn, und/ zu deren abtrei­bung, die vorhin schon beliebtn dorffs/ und bettel-Wachten durch beeder­sei­ti­ge beamte/ ohne fernern Verzug würck­lich angeord­net- und / sträck­lich darob gehal­ten, mithin derglei­chen lie-/derli­ches gesin­del in loco weder gedul­tet, noch beher- / berget, sondern mit Ernst abgetrie­ben, und dafer­ne / es sich solcher­ge­stal­ten nicht abtei­ben laßen wolte, / gegen daßel­be mit der erför­der­li­chen Schärf­fe und / allen­fal­ßi­ger Coerci­ti­on (Strafe) am Leib verfah­ren, vor/ die Einhei­mi­sche arme hinge­gen mittelst einer von / denen beeder­sei­ti­gen beamten hiermächs­tens gemein­schafft­lich / zu entwerf­fen stehen­den dasigen orths umstän­den ge- / mäßen Einrich­tung gewis­sen­hafft gesor­get werden solle.

Ausschnitt aus dem Aalener Proto­koll von 1749.
In dem hier wieder­ge­ge­be­nen Abschnitt 4/7 wird das Bettel­we­sen behandelt.

sen persön­lich kannten. Gemes­sen an den heimat­lo­sen Bettlern, die nirgends auch nur gedul­det waren, wurde also für die Ortsar­men vergleichs­wei­se gut gesorgt. Ein Jahrhun­dert später war das Oberko­che­ner Bettel­we­sen erneut Gegen­stand einer obrig­keit­li­chen Verfü­gung. In der Mitte des 19. Jahrhun­derts wurde versucht, das Bitten um Almosen stark einzu­schrän­ken. Diesem Ziel diente das Verbot des »Kinder­bet­tels« und die Festle­gung von wöchent­lich zwei »Bettel­ta­gen«. Die Maßnah­men fruch­te­ten aller­dings wenig. So gelang es kaum, die Kinder vom Betteln abzuhal­ten, und auch die wöchent­li­chen zwei Tage, an denen es noch erlaubt war, von Haus zu Haus zu ziehen und Almosen zu erbet­teln, wurden nicht eingehalten.

Die Armut geht zurück

Ihre gesell­schafts­po­li­ti­sche Relevanz verlor die örtli­che Armen­für­sor­ge im hier geschil­der­ten Sinne erst Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhun­derts, als die aufkom­men­de Sozial­ge­setz­ge­bung die schlimms­ten Fälle von Armut aufzu­fan­gen begann. Spezi­ell in Oberko­chen verbes­ser­te sich die ökono­mi­sche Situa­ti­on vieler Famili­en durch die ständig zuneh­men­den Arbeits- und Erwerbs­mög­lich­kei­ten in der am Ort aufblü­hen­den Bohrer­ma­cher­indus­trie. So konnte Oberko­chens evange­li­scher Pfarrer Eugen Wider im Jahre 1914 in einem Pfarr­be­richt kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrei­ben: »Die Erwerbs­mög­lich­kei­ten sind nicht ungüns­tig. Örtli­che (Armen-) Unter­stüt­zung erhält nur eine evange­li­sche Familie. Eigent­lich arme Leute gibt es sonst nicht, das heißt Mangel leiden muß niemand, der nur arbei­ten will«. Mit diesem Zitat endet das Kapitel der Oberko­che­ner Geschich­te, das mit »Armen­für­sor­ge« überschrie­ben ist.

Quellen­hin­wei­se

  1. Haupt­staats­ar­chiv Stutt­gart:
    Kirchen­vi­si­ta­ti­ons­ak­ten des 17. bis 19. Jahrhun­derts: Bestand A 281 Büschel 531 ff. Aalener Proto­koll von 1749: Bestand A 249 Büschel 3297.
  2. Landes­kirch­li­ches Archiv Stutt­gart:
    Pfarr­be­schrei­bun­gen und Pfarr­be­rich­te von 1828 bis 1914: Bestand A Bd. 3318
  3. Quellen zur Armen­für­sor­ge: Bestand A Bd. 3315 5
  4. Mühlen­buch von 1751. Aufbe­wah­rungs­ort: Untere Mühle zu Oberkochen.

Litera­tur­hin­weis

Einfüh­ren­de Litera­tur zum Thema »Armut und Fürsor­ge­we­sen«:
ZEEDEN, Ernst Walter: Deutsche Kultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt/Main 1968, S. 108–116.

Christ­hard Schrenk